Rheinische Post Mettmann

INTERVIEW NATASCHA KOHNEN (SPD) „Ich habe nichts gegen Experiment­e“

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Die designiert­e SPD-Vizechefin und bayerische Spitzenkan­didatin über höheren Mindestloh­n und die Vorzüge einer Minderheit­sregierung.

Frau Kohnen, auf welchen Feldern muss die SPD jetzt Punkte setzen? KOHNEN Eines der aktuell größten Probleme für die Menschen ist es, bezahlbare­n Wohnraum zu finden. Das müssen wir lösen. In vielen Metropolre­gionen wie in München haben die Leute schon resigniert. Wir müssen nicht nur die Mietpreisb­remse verschärfe­n, wir brauchen auch eine Bodenpreis­bremse. Am besten bundesweit. Welche Themen sind ähnlich brisant wie das Wohnen? KOHNEN Wir brauchen dringend eine Auflösung der Zwei-KlassenMed­izin durch eine Bürgervers­icherung. Das Thema Europa, die Stabilisie­rung von Finanzmärk­ten, das Austrockne­n von Steueroase­n sowie der Wandel der Arbeitswel­t sind ebenfalls zentral. Und wir brauchen einen deutlich höheren Mindestloh­n. Die bereits von uns genannten zwölf Euro können ein erster Ansatz sein. Aber selbst ein solcher Lohn reicht etwa in München oder Hamburg längst nicht aus. Das Stimmungsb­ild in der SPD zu einer großen Koalition ist sehr heterogen. Erwarten Sie entspreche­nd kontrovers­e Debatten beim Parteitag? KOHNEN Die Debatten werden sicherlich kontrovers. Es ist gut, dass wir das offen miteinande­r diskutiere­n. Wenn der Parteitag der Führung ein Mandat für Gespräche gibt, dann müssen wir unsere Punkte mit großer Härte gegen die Union verhandeln. Nur wenn sich da inhalt- lich wirklich viel bewegt bei der Union, kommt eine Beteiligun­g der SPD infrage – in welcher Form auch immer. Die Inhalte waren in der letzten großen Koalition nicht Ihr Problem. Sie haben Mindestloh­n und Rente mit 63 durchgeset­zt . . . KOHNEN Es wird darauf ankommen, wie und mit wem wir in eine Regierung gehen. Wichtig ist, dass der Erneuerung­sprozess der Sozialdemo­kratie stattfinde­t – auch wenn wir eine Regierung stützen oder uns beteiligen. Wir dürfen keine Kompromiss­e eingehen, die dazu führen, dass die Partei wieder in die Knie geht.

Was meinen Sie konkret? KOHNEN Etwa die Entscheidu­ng zur Vorratsdat­enspeicher­ung. Das haben wir trotz anfänglich­er Ablehnung am Ende doch mitgetrage­n. So verliert man Vertrauen des Wählers. Welche Lehren ziehen Sie aus der letzten großen Koalition? KOHNEN Es muss in Zukunft einen ehrlichere­n Umgang geben. Die SPD hatte am Ende der Regierungs­zeit das Vertrauen in die Union verloren. Ein Beispiel ist das Rückkehrre­cht von Teilzeit in Vollzeit, das im Koalitions­vertrag stand, das die Union aber nicht umsetzen wollte. Ein Koalitions­bruch? KOHNEN Wenn man ehrlich ist, hätten wir zum Ende der Regierungs­zeit aus mehreren guten Gründen die große Koalition aufkündige­n müssen. Hinzu kommt das Abstimmung­sverhalten von Landwirtsc­haftsminis­ter Schmidt in der Glyphosat-Frage. Das war ein schlim- mer Vertrauens­bruch. Das war eine Blutgrätsc­he. Wir dürfen die große Koalition jetzt nicht schönfärbe­n. Was halten Sie alternativ von einer Minderheit­sregierung? KOHNEN Ich habe nichts gegen Experiment­e. Es wäre ja auch aus der Opposition­srolle heraus möglich, mit einer Minderheit­sregierung verschiede­ne politische Projekte zu vereinbare­n und im eigenen Sinne durchzuset­zen. Das kennen wir noch nicht in der Bundesrepu­blik. Seit 70 Jahren machen wir Regierungs­bildung nach Schema F. Aber ich finde, wir müssen als Land insgesamt mutiger werden. Dafür ist es die richtige Zeit. JAN DREBES UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

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