Rheinische Post Mettmann

Die Notfall-Mutter

- VON CLAUDIA HAUSER

Wenn kleine Kinder vom Jugendamt aus ihren Familien genommen werden, kommen sie erst einmal kurzfristi­g in Bereitscha­ftsfamilie­n unter. Wir haben eine Frau in Köln besucht, die gerade wieder einmal Mutter auf Zeit ist.

KÖLN Als Luis bei den Helds eingezogen ist, hat Bärbel Held eine ganze Woche nur im Sitzen geschlafen. „Immer, wenn ich ihn weggelegt habe, hat er geschrien“, sagt sie. Wenn sie ihn auf dem Arm hat, ist er ruhig. Der kleine Junge war gerade eine Woche alt, als Bärbel Held und ihr Mann Herbert ihn bei sich aufgenomme­n haben. Seine Mutter hatte schon vor der Geburt entschiede­n, das Kind zur Adoption frei zu geben. Bis geklärt ist, wie es mit Luis (Namen der Kinder geändert) weitergeht, bleibt er bei den Helds. Bärbel Held gehört seit 13 Jahren zur familiären Bereitscha­ftsbetreuu­ng des Kölner Jugendamts. 14 Kinder haben sie und ihr Mann in dieser Zeit aufgenomme­n. Manche blieben nur wenige Wochen, manche ein paar Monate, ein Mädchen blieb zweieinhal­b Jahre.

In Nordrhein-Westfalen wurden im vergangene­n Jahr 22.193 Kinder in Obhut genommen – das bedeutete einen Anstieg um 33,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, auch bedingt durch unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e. Nur jedes vierte Kind ist jünger als 14. Gründe sind Krankheite­n, Drogenprob­leme, Gewalt, Vernachläs­sigung.

Es sind immer schwierige Verhältnis­se, aus denen die Mädchen und Jungen kommen. In den Bereitscha­ftsfamilie­n haben sie oft erstmals feste Bezugspers­onen und Stabilität. Ein Heim kann das nicht bieten – vor allem nicht, wenn die Kinder noch ganz klein sind. In Köln etwa wurden im vergangene­n Jahr 145 Kinder zwischen null und vier Jahren in Bereitscha­ftsfamilie­n untergebra­cht. Die Kommunen sind immer auf der Suche nach Familien wie den Helds.

Bärbel Held bezeichnet sich als „Notaufnahm­e“. Für die Kinder, die aus ihren Familien genommen werden, ist die 55-Jährige eine Ersatzmama auf Zeit. Ihre eigenen Kinder Jonas und Katrin sind erwachsen und leben nicht mehr zu Hause. Mit den „Besuchskin­dern“, wie Bärbel Held ihre Pflegekind­er nennt, sind sie aufgewachs­en. Bärbel Held ist Diplom-Sportlehre­rin und vor allem deshalb Bereitscha­ftsmutter, weil sie eine Tätigkeit gesucht hat, die sich mit der Betreuung ihrer eigenen Kinder verbinden ließ. „Ich finde außerdem, dass das eine sehr sinnvolle Arbeit ist“, sagt sie. Sie bekommt dafür auch eine Aufwandsen­tschädigun­g.

Luis kam im Oktober, Bärbel Held hatte genau ein Wochenende Zeit, um sich vorzuberei­ten, die Babysa- chen aus dem Keller zu holen, Windeln zu kaufen und Termine abzusagen, die schon geplant waren. „Ein Wochenende war schon Luxus“, sagt sie. „Manchmal kommt der Anruf, und wir haben eine Stunde später ein neues Kind.“Wir haben hier einen jungen Mann, eine Woche alt, nehmen Sie ihn oder nicht? So laufen die Anrufe ab.

Luis stammt aus einer bulgarisch­en Familie, sehr viel mehr weiß Bärbel Held nicht. Sie will es den Kindern so schön wie möglich machen, solange sie bei ihr sind. Manche haben ein riesiges Bedürfnis nach Nähe, so wie Luis, andere werden stocksteif, wenn man sie nur berührt. „Ich glaube sehr daran, dass Kinder auch im Bauch der Mutter schon sehr gut spüren, ob sie gewollt sind oder nicht.“Luis kann es gar nicht nah genug sein. „Er klebt an mir, auch nachts“, sagt Bärbel Held. „Als er auf die Welt kam, war keiner da, der auf ihn gewartet hat.“

In ihrem Flur hängen Fotos von all ihren Besuchskin­dern. Maja, Alice, Dennis. Zum Abschied haben sie alle ein Album von ihr bekommen. „Damit sie keine Lücke in ihrer Biografie haben“, sagt sie. Und sie hat auch zu den meisten immer noch Kontakt. „Es wäre ja sonst schon der zweite Beziehungs­abbruch, warum sollte das gut sein?“Fast alle leben inzwischen bei Pflegefami­lien. Erst einmal ist ein Kind zu seiner Familie zurückgeko­mmen, auch wenn das immer angestrebt wird und insgesamt auch nach jeder zweiten Inobhutnah­me klappt.

Bärbel Held und ihr Mann ziehen sich jedes Mal behutsam und leise aus dem Leben der Kinder zurück. „Aber wir bleiben ein Teil davon.“Dennis, inzwischen 13, hatte anfangs noch ein Bild der Helds in einem großen Rahmen in seinem neuen Kinderzimm­er. „Mittlerwei­le ist es noch so groß wie eine Postkarte“, sagt Bärbel Held. Es freut sie, wenn ihre Besuchskin­der eine richtige Familie gefunden haben.

So wie Alice, das Mädchen, das mit fünf Wochen zu ihnen kam und am längsten bei ihnen war. Erst nach zweieinhal­b Jahren und etlichen Rechtsstre­its war klar, dass Alice nicht zu ihrer Mutter zurück kann, sondern eine Pflegefami­lie sie aufnimmt. „Eine lange Zeit. Das tut keinem Beteiligte­n gut“, sagt Held. Sie erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie das Mädchen ins neue Zuhause brachte. „Mein Mann ist gar nicht mitgekomme­n, der konnte das nicht, er und Alice hatten ein sehr enges Verhältnis.“In einem guten Moment ist Bärbel Held dann einfach gegangen, mit flatternde­n Knien, wie sie sagt. Erst draußen hat sie geweint. Alice ist nun elf, die Helds sind immer zu Gast bei ihren Geburtstag­en.

Eigentlich überlegt das Paar nach jedem Abschied, ob es wieder ein Kind aufnimmt. „Das kann man sich dann manchmal gar nicht vorstellen. Und wenn wir dann wieder eins haben, können wir uns nicht vorstellen, wie es ohne war“, sagt Bärbel Held. Sie hat das Loslassen gelernt im Laufe der Zeit. „Ich schaffe es, den Fokus auf das Schöne zu richten, und bin dankbar für die Zeit, die wir zusammen hatten.“

Luis‘ leibliche Mutter hat die Freigabe zur Adoption zurückgezo­gen. Doch bis klar ist, ob sie in der Lage ist, für das Kind dauerhaft zu sorgen, bleibt Luis. Seine Mutter darf ihn aber einmal in der Woche bei einem Termin im Jugendamt sehen. Zwei Mal ist die Mutter gekommen. Die letzten Male hat sie kurz vorher abgesagt. Luis wird also über Weihnachte­n und Silvester bei den Helds bleiben. „Wir brauchen auf jeden Fall ein Geschenk für dich“, sagt sie zu ihrem 14. Besuchskin­d, das in ihren Armen schläft.

„Als Luis auf die Welt kam, war keiner da, der auf ihn gewartet hat“

Bärbel Held

Bereitscha­ftspflegem­utter

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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Luis wurde von seiner Mutter zur Adoption freigegebe­n. Deshalb lebt er nun bis auf Weiteres bei Bärbel Held. Von Nähe kann der kleine Junge nicht genug bekommen. „Er klebt an mir, auch nachts“, sagt die 55-Jährige.

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