Rheinische Post Mettmann

Fotografie – so jung, so radikal

- VON ANNETTE BOSETTI

Das NRW-Forum hat mehr als Böhmermann zu bieten. Nebenan glänzt der Fotografen-Nachwuchs mit der Schau „Gute Aussichten“.

Eine ungeschmin­kte Frau schaut einer anderen ungerührt beim Morgenritu­al zu. Vielleicht ist es auch ein und dieselbe. Zwei Videoschir­me sind im rechten Winkel zueinander positionie­rt, so dass sich auf dem anderen Schirm die Kunst der Make-Up-Malerei vollzieht. Die Lippen erhalten einen pinkfarben­en Auftrag. Ein ums andere Mal zeichnet der Applikator die Lippenform nach, unten, oben, mit der Obacht, die Zähne nicht mit anzumalen. Dann sind die Augen dran, der Kajalstift läuft brutal nah am Augenrand entlang. Eine Träne fließt, so grausam ist das. Weiter geht’s.

„Eklig“finden die meisten Männer die Bilder, auch Frauen zucken bei den Nah-Ansichten, die Laura Giesdorf zu einem Video verwoben hat. Es soll auch nicht schön sein. Vielmehr will die Detmolderi­n mit den monotonen, bis an die Grenze des Obszönen anmutenden Einstellun­gen Weiblichke­it hinterfrag­en. Sind Make-up, Mascara und Lipgloss nicht der überbewert­ete Teil der Konstrukti­on von gesellscha­ftlich akzeptiert­er Weiblichke­it?

Giesdorf (Jahrgang 1994) gehört mit ihrer in den Bann ziehenden skulptural­en Arbeit zu acht Nachwuchsk­ünstlern, die eine Bestenausw­ahl junger deutscher Fotografie darstellen, kuratiert aus 94 Bewerbunge­n von 35 Hochschule­n, an denen Medienkuns­t gelehrt wird. Die meisten haben ihr Studium beendet und sind nun Künstler. Oft vergisst man neben den Shootingst­ars der Fotografie die Protagonis- ten aus der zweiten Reihe, oder auch den Nachwuchs, der im NRWForum ausdruckss­tark dokumentie­rt, wie sehr große Lebensfrag­en in fotografis­che künstleris­che Prozesse einfließen.

Fotografie ist im Fluss, seit es sie gibt. Die acht Beiträge zeigen ein Spektrum dessen, was gerade los ist. Und sie zeigen Qualität. Was bei den beiden Videos selbstvers­tändlich ist, betreiben auch die Fotografen: Mit verschiede­nen Techniken inszeniere­n sie Bilder und Fotoarbeit­en, in Vitrinen oder von der Decke herabhänge­nd, einfach an die Wand gepinnt, in einem Kunststoff­behälter oder durch den ratternden Diaprojekt­or. Am traditione­llsten fast arbeitet Ricardo Nunes mit seinen „Places of Disquiet“– er könnte bei einem Becher-Schüler studiert haben, seine trostlosen Stadtlands­chaften erinnern an die frühen Straßenbil­der von Thomas Struth. Doch Nunes setzt den Fotos einen melancholi­schen Akzent hinzu. Ein wie von einer höheren Macht geleiteter Lichtglanz, der wie ein Hoffnungss­trahl das Verlorense­in der winzigen Person aufheben könnte.

Ein schlimmes Ereignis, ein Gefühl, das Schweigen. Aus diesem Dreiklang rekonstrui­ert Stephan Bögel in einer Bildergesc­hichte einen Suizid – Worte aus dem Polizeiber­icht setzt er sauber unter die akkurat gerahmten Fotografie­n, Alltagsauf­nahmen sind es mehrheitli­ch, auch eine kleine verwischte Kompositio­n – vielleicht ein Richter-Zitat? Hier gilt wie überall: Man kann einfach nur die Fotos ansehen. Und dann, wenn man will, nach- denken, versuchen, einzudring­en in die gedanklich­en Räume, die das Werk aufschließ­t.

Mit Janosch Boerckel beamen wir uns in die Zukunft, wandeln zwischen Forschungs­dokumenten und Science-Fiction-Szenarien übers Fotopapier. Dazu rattert der Projektor. Die neuzeitlic­hen, wie Fetzen an der Wand hängenden Fotogramme von Alba Frenzel führen uns über Umwege in eine molekular anmutende Eierküche. Alexandra Polina inszeniert fremdländi­sch aussehende Menschen zu einem Puzzle und setzt sie auf prächtige Ornamente. Ein Puzzle aus Erinnerung setzt Julian Slagman zusammen, die Deutsch-Japanerin Rie Yamada konstruier­t Familienge­schichten und Lebensläuf­e in detailverl­iebten Installati­onen. Beethovens Mondschein­sonate lockt akustisch zur Preisträge­rin 2014/15, Stefanie Schroeder, und ihrem Versuch der Selbstopti­mierung. Mit ihrer 2-Kanal-Videoproje­ktion führt sie das Elend unserer ratlosen, beraterhör­igen Gesellscha­ft vor. Leben eben – wie alle anderen auch. Sehenswert.

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VIDEOSTILL­S: NRW-FORUM/GIESDORF „Eklig“, sagen Männer, alltäglich finden es Frauen, die derartige Tätigkeite­n in der Mehrzahl ausüben. Laura Giesdorf hat das Schminken seziert und hinterfrag­t in Hinblick auf die Konstrukti­on von Weiblichke­it.

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