Das Haus der 20.000 Bücher
Man sollte sein Haus erleben wie eine Reise in ferne Länder – beschwerlich, herausfordernd, unberechenbar –, anstatt es wie ein Luxus-Penthouse zu genießen.
Im Laufe der Jahrzehnte war Chimen so süchtig nach Druckseiten geworden, nach der Haptik seiner Bücher, der Aura alter Manuskripte und den Inhalten seiner Briefwechsel, dass er sich zuletzt buchstäblich mit Wortmauern umgab. Sie boten ihm Schutz vor dem Wahnsinn der Außenwelt – oder halfen ihm, durch das Chaos zu navigieren.
Am Ende seines Lebens war jeder einzelne Raum des Hauses, mit Ausnahme von Badezimmer und Küche, vom Boden bis zur Decke von Regalen mit doppelten Bücherreihen gesäumt; an den wenigen freien Stellen hingen Gemälde und Fotos. Wenn man einige Ziegel aus der Bücherwand herausnahm, stieß man auf eine dahinter verborgene zweite Wand. Und als in den Regalen kein Platz mehr war, verschwanden zuerst die Fußböden und dann die Tische unter hohen, schwankenden Bücherstapeln. In einem Haus, das in den sechsundsechzig Jahren, in denen Chimen es bewohnte, kaum renoviert worden war und mit jedem Jahr baufälliger wurde, waren Ideen der Mörtel, der Chimens Biblio-Bausteine zusammenhielt: Vorstellungen vom Fortschritt, das Verständnis von Höflichkeit und Kultur, Erklärungen dafür, warum und auf welche Weise große Kulturvölker und Zivilisationen untergehen, sowie Geschichtstheorien.
Während das Haus der Bücher wuchs, Band um Band, Regal um Regal, Zimmer um Zimmer, wurden die Beziehungen zwischen den Werken komplexer. Adam Smiths Ideen vom freien Markt leiteten über zu den Wirtschaftstheorien in Marx’ Kapital. Macaulays und Carlyles Geschichtstheorien standen neben Hegels Dialektik, Marx’ Auffassungen von Basis und Überbau neben Frantz Fanons Tiraden über die reinigende Funktion des Schröpfens. Der konservative Historiker und Parlamentarier Edmund Burke ebnete im späten 18. Jahrhundert den Weg für den antirevolutionär eingestellten französischen Staatsmann Joseph de Maistre, dessen finstere Einschätzung des menschlichen Wesens wiederum zu einer Geistesbewegung führte, die letztlich im Faschismus und den wahnsinnigen Ideen von Hitlers Mein Kampf gipfelte. Englische Arbeiter, die sich im 19. Jahrhundert gegen die unwürdigen Zustände in den Fabriken der Midlands auflehnten, teilten sich ein Regal mit zeitgenössischen russischen Anarchisten wie Michail Bakunin. Über ihnen thronten russische Bolschewiki des 20. Jahrhunderts. Platon konnte als Fundament für den mittelalterlichen jüdischen Gelehrten Maimonides dienen, dessen Gedanken Jahrhunderte später Widerhall bei Spinoza fanden; und Spinozas Ethik wiederum stützte weltliche liberale Theoretiker wie John Locke, Montesquieu und Tom Paine. Jüdische Mystiker des 18. Jahrhunderts teilten sich eine Wand mit englischen utopischen Sozialisten des 19. Und so weiter.
Im Hillway gab es zwei Bibliotheken. Die erste bestand aus Chimens sozialistischer Sammlung, die zweite aus seinen Judaica. Sogar nachdem in den 1980ern fünftausend Bücher und zweitausend Sonderdrucke aussortiert worden waren und sich Werken in einer eigens gestifteten Bibliotheksabteilung in den beeindruckenden, im 19. Jahr- hundert entstandenen Gebäuden des University College London zugesellt hatten, war die JudaicaSammlung schlichtweg allumfassend: Sie beschäftigte sich mit jedem denkbaren Aspekt des jüdischen Lebens im Laufe der Jahrhunderte. Über die siebentausend Objekte, die die Universität erworben hatte, schrieb Chimens Kollege Mark Geller in einem Briefwechsel mit dem Kanzler der Hochschule, dass sie die „wahrscheinlich beste Bibliothek für jüdische Geschichte in Europa“bildeten. Die sozialistische Sammlung wiederum war höchstwahrscheinlich die vollständigste Privatkollektion weltweit mit ihrem Bestand an einschlägiger Literatur des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Unzweifelhaft handelte es sich um die umfassendste Sammlung ihrer Art in Großbritannien.
Zusammengenommen waren diese beiden durchaus miteinander verbundenen Bibliotheken von enormer Bandbreite, Frucht einer Sammlerleidenschaft, die Ende der 1940er Jahre durch Chimens Freundschaft mit dem RaritätenBuchhändler Heinrich Eisemann genährt worden war. Eisemann, ein deutscher Jude, war von Fin-de-Siècle-Experten in Frankreich, Paris und Rom mit den Feinheiten seines Gewerbes vertraut gemacht worden und Thomas Manns bevorzugter Buchhändler gewesen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte er Deutschland verlassen. Zuerst war er ins Londoner East End gezogen und dann in den wohlhabenderen Bezirk St. John’s Wood übergewechselt. Der deutsche Flüchtling habe sich so gut ausgekannt, erinnerte sich Chimen sechzig Jahre später in einem Gespräch mit Eisemanns Enkel, dass die Spit- zeneinkäufer stets aus Respekt aufgestanden seien, wenn er den Auktionssaal von Sotheby’s betreten habe.
Eisemann nahm Chimen unter seine Fittiche und machte ihn mit etlichen Händlern in England bekannt, darunter verschiedene Antiquare in der Farringdon Road sowie Maggs Bros. Ltd., die mit „seltenen Büchern, Autographen, Manuskripten, Stichen“handelten und eine Adresse am unlängst in Mode gekommenen Berkeley Square vorzuweisen hatten – zu ihren Kunden zählten Angehörige von Königshäusern in England, Spanien und Portugal. Chimen knüpfte auch Kontakte zu Händlern in Israel, Dänemark, Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Italien, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten. Er bestellte Bücher in der Regel per Post und bewahrte sämtliche Quittungen und Rechnungen auf recht chaotische Art auf. Seine Schriftwechsel mit diesen Firmen stopfte er in Kommoden in seinem Haus oder wahllos in Ordner in seinem Büro in der Universität: Zahlungsaufforderungen, Auseinandersetzungen über verloren gegangene Schecks, Mitteilungen über seltene Bücher, die gerade auf dem Markt aufgetaucht waren. Diese Verbindungen waren so bedeutsam, dass er im Laufe der Jahre mehrere Adressbücher füllte. Als Chimen 1948 nach New York reiste, hielt Eisemann sich zufällig ebenfalls dort auf. Eines Abends lud er Chimen in sein Hotelzimmer ein, um ihm etwas zu zeigen: einen kompletten handgeschriebenen Satz aus Beethovens Neunter Sinfonie, den Eisemann gerade im Auftrag eines amerikanischen Sammlers erworben hatte. (Fortsetzung folgt)