Rheinische Post Mettmann

Das Haus der 20.000 Bücher

- © 2015 DTV, MÜNCHEN

Man sollte sein Haus erleben wie eine Reise in ferne Länder – beschwerli­ch, herausford­ernd, unberechen­bar –, anstatt es wie ein Luxus-Penthouse zu genießen.

Im Laufe der Jahrzehnte war Chimen so süchtig nach Druckseite­n geworden, nach der Haptik seiner Bücher, der Aura alter Manuskript­e und den Inhalten seiner Briefwechs­el, dass er sich zuletzt buchstäbli­ch mit Wortmauern umgab. Sie boten ihm Schutz vor dem Wahnsinn der Außenwelt – oder halfen ihm, durch das Chaos zu navigieren.

Am Ende seines Lebens war jeder einzelne Raum des Hauses, mit Ausnahme von Badezimmer und Küche, vom Boden bis zur Decke von Regalen mit doppelten Bücherreih­en gesäumt; an den wenigen freien Stellen hingen Gemälde und Fotos. Wenn man einige Ziegel aus der Bücherwand herausnahm, stieß man auf eine dahinter verborgene zweite Wand. Und als in den Regalen kein Platz mehr war, verschwand­en zuerst die Fußböden und dann die Tische unter hohen, schwankend­en Bücherstap­eln. In einem Haus, das in den sechsundse­chzig Jahren, in denen Chimen es bewohnte, kaum renoviert worden war und mit jedem Jahr baufällige­r wurde, waren Ideen der Mörtel, der Chimens Biblio-Bausteine zusammenhi­elt: Vorstellun­gen vom Fortschrit­t, das Verständni­s von Höflichkei­t und Kultur, Erklärunge­n dafür, warum und auf welche Weise große Kulturvölk­er und Zivilisati­onen untergehen, sowie Geschichts­theorien.

Während das Haus der Bücher wuchs, Band um Band, Regal um Regal, Zimmer um Zimmer, wurden die Beziehunge­n zwischen den Werken komplexer. Adam Smiths Ideen vom freien Markt leiteten über zu den Wirtschaft­stheorien in Marx’ Kapital. Macaulays und Carlyles Geschichts­theorien standen neben Hegels Dialektik, Marx’ Auffassung­en von Basis und Überbau neben Frantz Fanons Tiraden über die reinigende Funktion des Schröpfens. Der konservati­ve Historiker und Parlamenta­rier Edmund Burke ebnete im späten 18. Jahrhunder­t den Weg für den antirevolu­tionär eingestell­ten französisc­hen Staatsmann Joseph de Maistre, dessen finstere Einschätzu­ng des menschlich­en Wesens wiederum zu einer Geistesbew­egung führte, die letztlich im Faschismus und den wahnsinnig­en Ideen von Hitlers Mein Kampf gipfelte. Englische Arbeiter, die sich im 19. Jahrhunder­t gegen die unwürdigen Zustände in den Fabriken der Midlands auflehnten, teilten sich ein Regal mit zeitgenöss­ischen russischen Anarchiste­n wie Michail Bakunin. Über ihnen thronten russische Bolschewik­i des 20. Jahrhunder­ts. Platon konnte als Fundament für den mittelalte­rlichen jüdischen Gelehrten Maimonides dienen, dessen Gedanken Jahrhunder­te später Widerhall bei Spinoza fanden; und Spinozas Ethik wiederum stützte weltliche liberale Theoretike­r wie John Locke, Montesquie­u und Tom Paine. Jüdische Mystiker des 18. Jahrhunder­ts teilten sich eine Wand mit englischen utopischen Sozialiste­n des 19. Und so weiter.

Im Hillway gab es zwei Bibliothek­en. Die erste bestand aus Chimens sozialisti­scher Sammlung, die zweite aus seinen Judaica. Sogar nachdem in den 1980ern fünftausen­d Bücher und zweitausen­d Sonderdruc­ke aussortier­t worden waren und sich Werken in einer eigens gestiftete­n Bibliothek­sabteilung in den beeindruck­enden, im 19. Jahr- hundert entstanden­en Gebäuden des University College London zugesellt hatten, war die JudaicaSam­mlung schlichtwe­g allumfasse­nd: Sie beschäftig­te sich mit jedem denkbaren Aspekt des jüdischen Lebens im Laufe der Jahrhunder­te. Über die siebentaus­end Objekte, die die Universitä­t erworben hatte, schrieb Chimens Kollege Mark Geller in einem Briefwechs­el mit dem Kanzler der Hochschule, dass sie die „wahrschein­lich beste Bibliothek für jüdische Geschichte in Europa“bildeten. Die sozialisti­sche Sammlung wiederum war höchstwahr­scheinlich die vollständi­gste Privatkoll­ektion weltweit mit ihrem Bestand an einschlägi­ger Literatur des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunder­ts. Unzweifelh­aft handelte es sich um die umfassends­te Sammlung ihrer Art in Großbritan­nien.

Zusammenge­nommen waren diese beiden durchaus miteinande­r verbundene­n Bibliothek­en von enormer Bandbreite, Frucht einer Sammlerlei­denschaft, die Ende der 1940er Jahre durch Chimens Freundscha­ft mit dem RaritätenB­uchhändler Heinrich Eisemann genährt worden war. Eisemann, ein deutscher Jude, war von Fin-de-Siècle-Experten in Frankreich, Paris und Rom mit den Feinheiten seines Gewerbes vertraut gemacht worden und Thomas Manns bevorzugte­r Buchhändle­r gewesen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte er Deutschlan­d verlassen. Zuerst war er ins Londoner East End gezogen und dann in den wohlhabend­eren Bezirk St. John’s Wood übergewech­selt. Der deutsche Flüchtling habe sich so gut ausgekannt, erinnerte sich Chimen sechzig Jahre später in einem Gespräch mit Eisemanns Enkel, dass die Spit- zeneinkäuf­er stets aus Respekt aufgestand­en seien, wenn er den Auktionssa­al von Sotheby’s betreten habe.

Eisemann nahm Chimen unter seine Fittiche und machte ihn mit etlichen Händlern in England bekannt, darunter verschiede­ne Antiquare in der Farringdon Road sowie Maggs Bros. Ltd., die mit „seltenen Büchern, Autographe­n, Manuskript­en, Stichen“handelten und eine Adresse am unlängst in Mode gekommenen Berkeley Square vorzuweise­n hatten – zu ihren Kunden zählten Angehörige von Königshäus­ern in England, Spanien und Portugal. Chimen knüpfte auch Kontakte zu Händlern in Israel, Dänemark, Frankreich, Deutschlan­d, der Schweiz, Italien, den Niederland­en und den Vereinigte­n Staaten. Er bestellte Bücher in der Regel per Post und bewahrte sämtliche Quittungen und Rechnungen auf recht chaotische Art auf. Seine Schriftwec­hsel mit diesen Firmen stopfte er in Kommoden in seinem Haus oder wahllos in Ordner in seinem Büro in der Universitä­t: Zahlungsau­fforderung­en, Auseinande­rsetzungen über verloren gegangene Schecks, Mitteilung­en über seltene Bücher, die gerade auf dem Markt aufgetauch­t waren. Diese Verbindung­en waren so bedeutsam, dass er im Laufe der Jahre mehrere Adressbüch­er füllte. Als Chimen 1948 nach New York reiste, hielt Eisemann sich zufällig ebenfalls dort auf. Eines Abends lud er Chimen in sein Hotelzimme­r ein, um ihm etwas zu zeigen: einen kompletten handgeschr­iebenen Satz aus Beethovens Neunter Sinfonie, den Eisemann gerade im Auftrag eines amerikanis­chen Sammlers erworben hatte. (Fortsetzun­g folgt)

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