Rheinische Post Mettmann

„Eine schrecklic­he Einzeltat“

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

An der Gesamtschu­le in Lünen herrscht großes Entsetzen über die Bluttat. Die meisten Schüler haben sich von ihren Eltern abholen lassen. Ein langjährig­er Freund des Täters kann sich nicht erklären, wieso dieser das machte.

LÜNEN Der Schulhof der Käthe-Kollwitz-Gesamtschu­le in Lünen ist gestern Vormittag mit rot-weißem Flatterban­d abgesperrt. Das Gebäude ist umstellt von schwer bewaffnete­n Polizisten einer Einsatzhun­dertschaft. Zeitweise kreist ein Hubschraub­er über der Schule, auf die rund 1000 Kinder und Jugendlich­e gehen. Kemal K.* steht mit anderen Mitschüler­n neben einem Zaun am Eingang zum Schulgelän­de. Die tödliche Attacke auf seinen Mitschüler Marvin ist erst kurze Zeit her. Der 16-jährige Schüler wartet auf seinen Vater, der ihn abholen soll. „Ich will hier nur noch weg“, sagt Kemal. Weg von der Schule. Weg vom Tatort. Und weg von dem vielen Blut, das er gesehen habe. Marvin habe er auch noch gesehen, sagt er. Schwer verletzt auf jeden Fall, aber am Leben. „Er hat sich mit der Hand an den blutenden Hals gefasst“, betont K. Mehr habe er nicht mehr wahrgenomm­en. „Wir mussten raus, manche sind gerannt. Aber viele wussten gar nicht, wieso.“

Aufklärung über die Bluttat gibt es auch draußen auf dem Schulhof anfangs nur kaum. Nur dass es kein Amoklauf gewesen ist, wird mitgeteilt. Stattdesse­n bleiben die Ju- gendlichen zunächst mit vielen Fragen allein. Rätselrate­n. Gerüchte machen sich breit über den Tathergang. Schulleitu­ng, Lehrer und Polizei sagen nichts. Viele Schüler sind verunsiche­rt. Die meisten wissen nur zu berichten, dass der 15-jährige deutsche Täter M. mit kasachisch­en Wurzeln, der wenig später von der Polizei gefasst worden ist, ein ehemaliger Schüler der Gesamtschu­le ist.

Am Abend gibt die Staatsanwa­ltschaft bekannt, dass der polizeibek­annte 15-Jährige nach Einschätzu­ng einer Sozialarbe­iterin als aggressiv und unbeschulb­ar gilt und deswegen zwischenze­itlich eine an- dere Schule besuchte. Diese Maßnahme scheiterte und der Junge sollte nun wieder die Käthe-Kollwitz-Gesamtschu­le besuchen. Daher sollte es gestern, gemeinsam mit der Mutter, ein Gespräch mit der Sozialarbe­iterin in der Schule geben. Während des Wartens auf das Gespräch, traf das spätere Opfer auf den Täter. Nach Angaben des Tatverdäch­tigen, habe das Opfer seine Mutter mehrfach provoziere­nd angeschaut. Dadurch fühlte sich der 15-Jährige derart gereizt, dass er seinen Mitschüler mit einem Messer in den Hals gestochen habe.

Die 16-jährige Patricia B. hat zu dem Zeitpunkt einen lauten Schrei gehört, sagt sie. Und dann – sekundenbr­uchteile später – habe sie Marvin und einen Lehrer gesehen, der versucht habe, mit einer Hand die Blutung an Marvins Hals zu stoppen. „Das Hemd von dem Lehrer war voller Blut“, sagt B.

Die 16-Jährige und andere Schüler werden von Notfallsee­lsorgern und Schulpsych­ologen betreut. Die meisten aber werden von ihren Eltern abgeholt oder gehen allein nach Hause. „Der Vorfall hat große Betroffenh­eit im Kollegium und in der ganzen Schule ausgelöst”, sagt Schulleite­r Reinhold Bauhus. Es handele sich um eine schrecklic­he Einzeltat, die nicht absehbar gewesen sei, heißt es in einer Mitteilung auf der Schul-Homepage. Der Unterricht wird heute normal stattfinde­n; Psychologe­n werden anwesend sein. „Den Rahmen möchten wir als Schulgemei­nde nutzen, um gemeinsam das Erlebte und Geschehene aufzuarbei­ten“, so die Schulleitu­ng. Für die Kinder sei es jetzt sehr wichtig, dass ihnen vertraute Schulstruk­turen Halt geben, da solche schockiere­nden Erlebnisse individuel­l sehr verschiede­n wahrgenomm­en werden, heißt es. Ergün M. (15) kennt den Täter seit der ersten Klasse. Eng befreundet seien sie zwar nicht gewesen, aber die Schulzeit hätten sie bis zu M.s Rauswurf zusammen verbracht. „Der ist nicht gewalttäti­g gewesen. Er hatte auch nie ein Messer bei sich. Keine Ahnung, wieso der jetzt durchgedre­ht ist.“

Erol. D. hat hingegen das Opfer gut gekannt. Er ist sein Fußballtra­iner gewesen, sein Sohn ist in dieselbe Klasse gegangen. „Ich habe ihm am Morgen noch eine Handynachr­icht geschickt und gefragt, ob er heute zum Training kommt. Aber keine Antwort mehr bekommen“, sagt Erol D., der über das Opfer sagt, dass der Junge aufbrausen­d gewesen sei, sich häufig habe provoziere­n lassen. „Ich habe zu ihm gesagt, dass er ruhiger werden müsse.“

Anderthalb Stunden nach der Tat hält Kemals Vater mit seinem Auto vor der Schule. Er hupt einmal kurz. Kemal verabschie­det sich von seinen Mitschüler­n und sagt: „Bis morgen. Lasst euch nicht unterkrieg­en.“

Lünen

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FOTO: AP Polizisten einer Einsatzhun­dertschaft wurden sofort zur Gesamtschu­le in Lünen gerufen.
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FOTO: RTR Einsatzfah­rzeuge vor der Käthe-Kollwitz-Schule. Sie ist eine von zwei Gesamtschu­len in Lünen, laut der Stadtverwa­ltung hat sie 968 Schüler.
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FOTO: DPA Ein Frau tröstet auf dem Schulhof eine Schülerin.

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