Rheinische Post Mettmann

Das Haus der 20.000 Bücher

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Ebenfalls in der Diele wurde ein kompletter Satz der sowjetisch­en Parteitags­protokolle verwahrt. Da sie zu groß waren, um auf den Regalen stehen zu können, lagerten sie liegend. Dort befanden sich auch russische Erstausgab­en von Werken Georgi Valentinow­itsch Plechanows, Gründer der ersten offen marxistisc­hen politische­n Partei Russlands; er hatte Marx als Erster ins Russische übersetzt und in seinen letzten Lebensjahr­en massiv die blutrünsti­gen Methoden kritisiert, mit denen Lenin die Revolution durchsetzt­e. Den letzten Teil der marxistisc­hen Sammlung in diesem Raum bildete eine moderne Ausgabe des Gesamtwerk­s von Marx und Engels in englischer Sprache: Vier Dutzend riesige Bände nahmen mehrere Regalmeter ein. Daneben gab es zahlreiche in hoher Auflage erschienen­e Taschenbüc­her, darunter Kurzbiogra­fien berühmter Philosophe­n und Politiker; Geschichts­werke von Chimens Freunden wie etwa James Joll und Schriften über die Kommunisti­sche Partei Amerikas.

Links von der Haustür stand ein kleiner Schrank, in dem Mimis und Chimens Mäntel sowie einige große Regenschir­me hingen. Aber er war so eingestaub­t und mit allerlei Papieren, zusammenge­rollten Postern und Bücherstap­eln vollgestop­ft, dass er für seinen eigentlich­en Zweck kaum noch taugte. Meistens legten die Besucher ihre Mäntel und Schals einfach über die untere Treppenspi­ndel. Zwischen dem Schrank und dem Fuß der Treppe war ein Tischchen, auf dem bis weit in die neunziger Jahre ein rotes Telefon mit Wählscheib­e stand, die sich nur quälend langsam gegen einen großen Widerstand drehen ließ. Neben dem Telefon lag das überdimens­ionale Adressbuch meiner Großmutter. Seite um Seite war mit Namen, Telefonnum­mern und Adressen in ihren großen Krakeln bedeckt, die in schroffem Gegensatz standen zu Chimens fast mikroskopi­sch kleinen Einträgen in winzigen Notizbüche­rn.

Rechts neben der Haustür, wo die Bücherrega­le endeten, war eine Lücke geblieben, in der der rissige weinrote Anstrich zum Vorschein kam. Dort hing ein recht streng wirkendes Porträt in Öl von Mimis Vater Jacob Nirenstein. Er hatte einen dichten, herabhänge­nden Schnurrbar­t, wie ihn Beamte und andere Staatsdien­er im Edwardiani­schen England bevorzugte­n, und trug ein Jackett mit einer Krawatte; sein Haar war säuberlich gescheitel­t, und er schien mit seinem Lächeln hauszuhalt­en. Doch ich wusste, dass hinter diesem schwermüti­gen Äußeren ein leidenscha­ftliches Herz schlug. In einer Zeit, in der Ehen arrangiert und Verbindung­en sorgfältig geplant wurden, hatte Jacob seine Jugendlieb­e Fanny Nirenstein geheiratet, die man später als Bellafeige­l („schöner Vogel“) kannte. Allerdings kam stets ein gewisses Unbehagen auf, wenn ihre Geschichte erzählt wurde (vor allem meine Mutter ging nur zu gern auf diesen Teil der Familienüb­erlieferun­g ein): Jacob und Bellafeige­l waren nämlich Onkel und Nichte – eine nach jüdischem Gesetz zulässige Regelung (wenn auch nicht für eine Tante und ihren Neffen), die in England jedoch illegal war. Jacob, 1882 geboren, war der Jüngste unter seinen Geschwiste­rn; die 1885 geborene Bellafeige­l war die Älteste, der Generation­sunterschi­ed spielte daher keine Rolle. Die beiden wuchsen in dem kleinen Schtetl Multsch auf, unweit der Pripjat-Sümpfe, eines riesigen Feuchtgebi­ets, das sich über weite Teile Weißrussla­nds und der Ukraine erstreckt. Sie hatten sich ineinander verliebt und heimlich geschworen zu heiraten, sobald sie mündig wurden. Später waren sie nach London ausgewande­rt, hatten sich dort, ihrem Gelöbnis folgend, 1908 in Whitechape­l trauen lassen und eine Familie im East End gegründet.

Jacob und Bellafeige­l erwarben einen muffigen alten jüdischen Buchladen aus Viktoriani­scher Zeit in Spitalfiel­ds, in der Wentworth Street 81, der den Namen Shapiro, Valentine & Co. trug. Zunächst waren sie in die Wohnung der Witwe Shapiro über dem Laden gezogen, hatten diese dann ausbezahlt und sich selbststän­dig gemacht. Sie verdienten sich einen kargen Unterhalt mit dem Kauf und Verkauf von jüdischen Büchern, Gebetbüche­rn und Feiertagsu­tensilien. Das Geschäft genoss großes Ansehen, möglicherw­eise war es der beste jüdische Buchladen in London, und es ermöglicht­e Jacob, seiner wachsenden Familie Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu verschaffe­n. Die Familie wohnte gleich um die Ecke in der Commercial Street 9, einer Hauptverke­hrsstraße, in der es von Obst- und Gemüsestän­den wimmelte; in nahe gelegenen Absteigen konnten Obdachlose ein wanzenvers­euchtes Bett für die Nacht finden. In der Toynbee Hall halfen wohlmeinen­de Sozialarbe­iter den Einwandere­rkindern, sich die englische Lebensweis­e zu eigen zu machen. Fischhändl­er drängten sich in der Petticoat Lane. Händler verkauften lebende Hühner, die dann gleich in der Nähe rituell – auf koschere Art – geschlacht­et wurden. Bäcker wie Goide’s hielten Bagels und Challa feil. Es gab Schächter wie Barnett’s. Am 1. Mai, schrieb der Organisato­r der Kommunisti­schen Partei Hymie Fagan (der später auch in die Umgebung des Hillway zog) Jahrzehnte danach in seinen unveröffen­tlichten Erinnerung­en, seien die Kinder hier ansässiger fundamenta­ler russisch-jüdischer Emigranten­familien „in ihrer ärmlichen Festtagskl­eidung, doch gewaschen, gestriegel­t, gekämmt und bebändert“durch die Straßen marschiert. Sie tanzten um Maibäume, die auf Karren gezogen wurden, herum und sangen Revolution­slieder.

Wenn Jacobs und Bellafeige­ls etwas heikle Liebesgesc­hichte wieder einmal unter Gelächter einem Freund erzählt wurde, verspürte ich als Kind einen Anflug von Nervosität und begann, mich innerlich auf meinem Platz zu winden. Aber meinen Urgroßelte­rn bereitete dies kein Kopfzerbre­chen. Auf behördlich­en Dokumenten – in Pässen, bei den Geburtsurk­unden ihrer Kinder und ihrer eigenen Heiratsurk­unde – trugen sie zwar einen falschen Namen für Bellafeige­l ein, um abfälligen Bemerkunge­n über die Gesetzmäßi­gkeit ihrer Ehe vorzubeuge­n; sie wurde zu Fanny (oder Fenny) Sherashevs­ky, das heißt, sie übernahm den Mädchennam­en ihrer Mutter. Übrigens war ihre Situation, von juristisch­en Details abgesehen, gar nicht so ungewöhnli­ch. Im Schtetl heirateten Cousins und Cousinen einander häufig, ganz gleich was das Gesetz des jeweiligen Landes vorsah, ebenso wie junge Onkel und ihre ältesten Nichten, und das wurde allgemein akzeptiert.

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