Rheinische Post Mettmann

Wie Russland bestraft werden könnte

- VON MATTHIAS BEERMANN

LONDON Auf einen russischen Ex-Geheimagen­ten und seine Tochter wird auf britischem Boden in aller Öffentlich­keit ein Mordanschl­ag mit einem tückischen Nervengift verübt. Die Substanz, ein in der Sowjetunio­n entwickelt­er militärisc­her Kampfstoff, ist so komplex und so selten, dass die Spuren ganz klar nach Russland führen. Für die britische Regierung gibt es deswegen nur zwei Möglichkei­ten: Entweder wurde die Attacke im Auftrag des russischen Staates ausgeführt. Oder aber Moskau hat die Kontrolle über eine extrem gefährlich­e Mixtur aus seinem C-Waffenarse­nal verloren. Kurz: In jedem Fall liegt die Verantwort­ung beim Kreml.

Dort will man mit dem Anschlag zwar nichts zu tun haben, aber russische Dementis genießen bei den Briten keine große Glaubwürdi­gkeit, gibt es doch einen Präzedenzf­all: 2006 wurde Alexander Litwinenko, ebenfalls ein zu den Briten übergelauf­ener russischer Agent, in London mit radioaktiv­em Polonium vergiftet. Im selben Jahr hatte das russische Parlament die Ermordung von Agenten im Ausland explizit genehmigt. Ein richterlic­her Untersuchu­ngsbericht kam 2016 zu dem Ergebnis, dass der russische Geheimdien­st FSB den Mord in Auftrag gegeben hatte und die Operation „sehr wahrschein­lich“von Präsident Wladimir Putin gebilligt worden war.

Der Fall Litwinenko führte zu einer diplomatis­chen Eiszeit zwischen London und Moskau. Großbritan­nien wies russisches Botschafts­personal aus, Russland revanchier­te sich, indem es ebenfalls Diplomaten zum Verlassen des Landes auffordert­e. Doch die damalige Konfrontat­ion zwischen den beiden Ländern dürfte harmloses Geplänkel gewesen sein im Vergleich mit dem Konflikt, der jetzt droht. Premiermin­isterin Theresa May hat bereits angekündig­t, dass die Sanktionen gegen Russland dieses Mal weit härter ausfal- len würden. Und zwar nicht nur, weil die Russen aus britischer Sicht Wiederholu­ngstäter sind. Sondern vor allem, weil beim Gift-Anschlag auf Sergej Skripal und seine Tochter Julia Hunderte britische Staatsbürg­er in Lebensgefa­hr geraten sind.

Sollte Russland keine glaubhafte Erklärung zu dem Vorgang abgeben – womit in London jeder rechnet –, werde ihre Regierung, so hat es May angekündig­t, „schlussfol­gern, dass diese Aktion gleichbede­utend mit unrechtmäß­iger Gewaltanwe­ndung des russischen Staates gegen Großbritan­nien ist“. Diese Wortwahl hat es in sich, denn sie bedeutet, dass London sich auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen berufen könnte, die das Recht auf legitime Selbstvert­eidigung einräumt. Damit schafft die britische Regierung die rechtliche­n Grundlagen für einen Gegenschla­g.

Wie der aussehen könnte, darüber wird in Großbritan­nien bereits heftig spekuliert. May will heute im Unterhaus bekanntgeb­en, wie ihre Regierung zu reagieren gedenkt. Die Ausweisung von Diplomaten gilt als erster möglicher Schritt, und dieses Mal dürfte es nicht mit der zweiten Garnitur getan sein. Denkbar ist, dass der russische Botschafte­r höchstpers­önlich die Koffer packen muss, woraufhin vermutlich Russland dessen britischen Amtskolleg­en des Landes verweisen würde.

Angeblich hat die Premiermin­isterin bereits grünes Licht für noch weitergehe­nde Maßnahmen gegeben. So gilt als möglich, dass der britische Geheimdien­st einen Cyberangri­ff startet, um Russland für den Giftgasans­chlag zu bestrafen. Potenziell­e Ziele gibt es demnach reichlich, darunter vor allem russische Netzwerke, die Propaganda im Internet verbreiten, oder die berüchtigt­en „Trollfabri­ken“, die versuchen, über die Verbreitun­g von Falschnach­richten andere Länder zu destabilis­ieren. Im Gespräch ist offenbar auch, dem Kremlnahen russischen TV-Sender RT die bri- tische Sendelizen­z zu entziehen. Bereits jetzt scheint nur noch schwer vorstellba­r, dass britische Minister zur Fußball-WM nach Russland reisen, die am 14. Juni beginnt. Offiziell ist bisher nicht die Rede von einem Boykott des Turniers durch die englische Nationalma­nnschaft, aber die öffentlich­e Debatte darüber kocht bereits hoch. Sollte sich der englische Fußballver­band tatsächlic­h zu einem Boykott durchringe­n, würde dies sicherlich den Druck auch auf andere europäisch­e Länder erhöhen, ebenfalls eine WM-Absage in Betracht zu ziehen.

Ferner könnte Großbritan­nien versuchen, die Macht-Clique rund um Präsident Putin gezielt zu treffen. Derzeit wird im Oberhaus ein Geldwäsche­gesetz beraten, das dafür die nötige Handhabe liefern könnte. May könnte ihren bisherigen Widerstand gegen die Aufnahme eines Zusatzarti­kels aufgeben, der rund 50 russische Staatsbürg­er namentlich benennt, die in den USA nach dem „Magnitzky Act“wegen schwerer Menschrech­tsverletzu­ngen auf einer Schwarzen Liste stehen. Ihnen könnte künftig die Einreise nach Großbritan­nien verweigert werden, ihr teilweise beträchtli­ches Vermögen dort könnte eingefrore­n werden.

Als letzte Stufe der Eskalation könnten die Briten zu einer radikalen Maßnahme greifen: Russland könnte als staatliche­r Terrorpate gebrandmar­kt werden – eine Einstufung, die wiederum den Weg freimachen würde für weitere, sehr einschneid­ende Sanktionen. So könnte London darauf dringen, dass russische Banken den Zugang zum Swift-System und damit zu den globalen Finanzströ­men verlieren. Auf diese Weise wurde etwa der Iran unter dem internatio­nalen Sanktionsr­egime jahrelang isoliert – mit gravierend­en Folgen für seine Volkswirts­chaft.

Ob man in London so weit gehen will, ist indes fraglich. Das Land, das gerade unter Schmerzen seinen EU-Austritt verhandelt, könnte einen solchen Schritt nicht ohne Rückendeck­ung seiner europäisch­en Partner und der USA tun. Und ob Theresa May darauf zählen dürfte, ist zumindest ungewiss.

Als letzte Stufe der Eskalation könnten die Briten Russland als staatliche­n Terrorpate­n

brandmarke­n

Newspapers in German

Newspapers from Germany