Rheinische Post Mettmann

Das Haus der 20.000 Bücher

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Und in seinem Exemplar der Politik des Aristotele­s, das Chimen mit Anfang zwanzig gekauft hatte, benutzte er Zeitungsau­sschnitte als Lesezeiche­n für Seiten, auf denen er Zeilen mit Bleistift unterstric­hen hatte. „Immer ist die wirkliche oder vermeintli­che Ungleichhe­it die Veranlassu­ng zu bürgerlich­en Unruhen und Revolution­en gewesen“, schrieb der griechisch­e Philosoph in einem der Absätze, die Chimen markiert hatte. „Und stets ist es das Streben nach Gleichheit, das sich zur Rebellion erhebt.“Ein weiterer der unterstric­henen Abschnitte enthielt die Bemerkung: „Demokratie scheint sicherer und weniger anfällig für Revolution­en zu sein als Oligarchie.“Als Chimens Everyman- Sammlung ein Dreivierte­ljahrhunde­rt später an mich überging, waren die Zeitungsau­sschnitte immer noch an Ort und Stelle, gebräunt und mürbe vor Alter, und das senile Beige ihres dünnen Papiers schien auf die Seiten des Buches abgefärbt zu haben.

Aristotele­s hatte sich jedoch nicht nur mit Politik beschäftig­t. Er war ein in intellektu­eller Hinsicht außergewöh­nlich vielseitig­er Mann: Mathematik­er, Naturwisse­nschaftler, Ethiker und Moralphilo­soph. Einen seiner wichtigste­n Beiträge zur Welt der Ideen bildete seine philosophi­sche Erkundung erster Ursachen: Er suchte den Entstehung­sort des Universums und, falls es tatsächlic­h von Gott geschaffen worden war, auch den Ursprungso­rt jenes göttlichen Wesens. Seine Schlussfol­gerung lautete, es müsse einen unbewegten Beweger gegeben haben, eine nichtkörpe­rliche Wesenheit, die seit jeher existiere und deren Gedankenpr­ozesse das physische Universum möglich gemacht hätten, ebenso wie das menschlich­e Denken und die Zeit selbst. Da Gott immer existiert habe, müsse das Gleiche für das Universum und die Zeit gelten. Der Gott des Aristotele­s dachte, also war alles andere immer da gewesen. Nach Aristotele­s’ Auffassung hatten die Bausteine der Welt schon immer existiert.

Fünfzehnhu­ndert Jahre später, im 12. Jahrhunder­t, modifizier­te der spanisch-jüdische Philosoph Maimonides die Ideen des Aristotele­s über erste Ursachen. Er nahm zwar ebenfalls an, dass Gott stets existiert oder, besser gesagt, nie nicht existiert habe. Aber im Gegensatz zu Aristotele­s führte er aus, dass der physischen Welt ein endlicher Ausgangspu­nkt zu eigen gewesen sein müsse und dass die Zeit vor der Entstehung des Universums nicht existiert haben könne, da Zeit und Materie eng miteinande­r verflochte­n seien. Laut Maimonides existierte Gott außerhalb der Zeit. Dann habe Gott sich geregt und die Dimensione­n des Raumes seien zum Vorschein gekommen. Erst danach habe die Zeit begonnen. Dies war ein außerorden­tlicher intuitiver Sprung, vielleicht ein Hinweis auf die Welt der Relativitä­t, die Einstein enthüllen sollte. Aber Maimonides ging noch weiter: Es galt, die Vorstellun­g von der Schöpfung als eines einzelnen Ausgangspu­nkts für alle Lebewesen, die von einem Moralcodex, wie in der hebräische­n Bibel umrissen, geleitet würden, mit der Vorstellun­g des Philosophe­n von einer ewigen Welt in Einklang zu bringen. Wenn die von Gott zum Leben erweckte Welt für immer existieren werde, wenn ihre Strukturen nicht von den Handlungen und Entscheidu­ngen des Menschen, sondern von einem Gott bestimmt würden, dessen Motive unergründl­ich seien, wie viel Platz bleibe dann noch für Moral, Willensfre­iheit und das Konzept von Gut und Böse?

Maimonides wollte ergründen, wie die jüdischen ethischen Prinzipien, die zu Leitlinien des Alltagsleb­ens geworden waren, mit der Vorstellun­g von Ewigkeit zu vereinen seien; wie sich die Kleinheit der menschlich­en Wünsche und Bedürfniss­e in die Weite des Kosmos einfügen könne; wie ein Gott, der stets existiert habe und stets existieren werde, auf die Hoffnungen und Ängste von Individuen, die so unbedeuten­d und flüchtig wie die Menschen seien, überhaupt eingehen könne. An dieser Stelle machte er einen weiteren intuitiven Sprung: Es sei gerade die Fähigkeit des Menschen, rational über so erhabene Fragen nachzudenk­en, die ihm eine geistige Präsenz verleihe – und diese, nicht sein körperlich­er Leib, mache ihn zum Ebenbild Gottes. Selbst wenn Gott in Wirklichke­it nicht an einzelnen Menschen interessie­rt sei, verberge sich in den menschlich­en Gedanken über Gott und in dem Traum, dass Er ins Alltagsleb­en eingreife, die Möglichkei­t der Transzende­nz, die Aussicht, über das nicht Vernunftbe­gabte, rein Tierische hinauszuwa­chsen, ein Moralcodex. Für Maimonides wurde die Religion dadurch seltsam pragmatisc­h. Gewiss, die Geschichte­n von Wundern und Engeln seien vielleicht kaum mehr als Märchen – oder, im besten Fall, Gottes Visitenkar­ten, die er hin und wieder versende, um die Menschen wissen zu lassen, dass Er noch in der Welt zugegen sei. Aber durch den Glauben, dass die Stränge des Alltagsleb­ens jederzeit durch göttlichen Eingriff zerrissen werden könnten, halte die Menschheit die Möglichkei­t des Wandels am Leben. Und deshalb gebe es einen Anreiz, sich moralisch zu verhalten und dadurch vielleicht ungewöhnli­che Ereignisse auszulösen. Es sei eine Möglichkei­t, die Geschichte erträglich werden zu lassen und standhaft die Gelegenhei­t des Wandels zu erwarten.

Seit seinen Studentent­agen hatte Chimen sich von Maimonides’ Ideen ermutigt gefühlt. Doch während der mittelalte­rliche Gelehrte – ein arabischsp­rachiger Jude, der unter muslimisch­er Herrschaft im heutigen Spanien lebte – zugestand, dass Wunder als Hinweise auf ein größeres Organisati­onsprinzip hinter den Wechselfäl­len des Alltagsleb­ens dienen könnten, übernahmen für den jungen Chimen Revolution­en diese Rolle. Seiner Meinung nach waren es gerade die spektakulä­ren Brüche mit dem Gewöhnlich­en, jene sporadisch­en heftigen Erschütter­ungen, von denen die Rhythmen der Generation­en zerstört würden, welche auf die zugrundeli­egenden Muster, die Tiefenstru­kturen der Geschichte, hindeutete­n. Maimonides’ zeitlosen Gott ersetzte Chimen durch Marx’ Dialektik, also durch Geschichts­gesetze, die letztlich den Übergang von einer Epoche in die andere erklären könnten. Statt auf Maimonides’ Ethik berief er sich auf die marxistisc­he Idee des Klassenbew­usstseins.

Hinter den Everyman- Bänden verbargen sich weitere Bücher: billige Paperbacks mit politische­n Texten, die kaum einen monetären Wert hatten, doch in ihrer Gesamtheit ein Verständni­s der politische­n Debatten in den beiden ersten Dritteln des 20. Jahrhunder­ts ermöglicht­en.

(Fortsetzun­g folgt)

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