Das Haus der 20.000 Bücher
Auch viele Anarchistengruppen, die mit den Bombenwerfern sympathisierten, schwammen opportunistisch mit dem antisemitischen Strom und bemühten sich, die Pogromhetzer noch zu übertreffen, um auf dem Lande Anhänger zu gewinnen. Dadurch waren die Juden des Russischen Reiches in Yehezkels Kindheit und Jugend in einer immer brutaleren Umklammerung gefangen, denn sie wurden nicht nur von der Regierungspropaganda und organisiertem nationalistischem Gesindel, das dem Trommelschlag des Hasses von Gruppen wie dem Bund des Russischen Volkes (dessen Ehrenmitglied Zar Nikolaus II. war) und den Schwarzen Hundertschaften folgte, sondern häufig auch von radikalen Anarchisten unter Druck gesetzt.
Im April 1903 verloren bei einem besonders verheerenden Pogrom in Kischinjow (heute Chisinãu, Hauptstadt von Moldawien) mindestens fünfundvierzig Juden ihr Leben, und viele Hundert trugen Verletzungen davon. Ungezählte Häuser und Geschäfte wurden geplündert oder niedergebrannt. Das Ereignis erregte internationale Aufmerksamkeit: Ein Reporter der New York Times schrieb, die Juden seien „wie Schafe abgeschlachtet“worden. Der Antisemitismus nahm sogar noch zu. In russischen nationalistischen Kreisen wurde ein Text herumgereicht, der angeblich eine global angelegte jüdische Verschwörung belegte. Die Programmschrift wurde bekannt als Protokolle der Weisen von Zion, und ihre Verbreiter behaupteten, es handele sich um ein Komplott von Zionisten, Freimaurern und dem britischen Außenministerium, mit dem Ziel, in Russland den Samen für einen antizaristischen Aufstand zu säen. In Kiew und anderen Städten gingen Geschichten um, die auf der uralten „Blutlüge“beruhten: Angeblich ermordeten Juden die Kinder von Christen. Damit wurde Öl in ein bereits loderndes Feuer gegossen. Erst Jahre später stellte sich nach gründlichen Ermittlungen heraus, dass der russische Geheimdienst die Protokolle ausgeheckt hatte. Mittlerweile waren sie jedoch längst fester Bestandteil des antisemitischen Arsenals und wurden immer wieder herangezogen, um das Misstrauen gegenüber den Juden und die an ihnen begangenen Schreckenstaten zu rechtfertigen.
Zwei Jahre nach den Ausschreitungen in Kischinjow wurden in einer einzigen todbringenden Woche Ende Oktober und Anfang November 1905 über sechshundert jüdische Gemeinden von Pogromen heimgesucht. Allein in Odessa, schrieb der mit Chimen befreundete Historiker Salo Baron von der Columbia University in seinem Buch The Russian Jew Under Tsars and Soviets, „verloren nicht weniger als 300 Menschen ihr Leben, Tausende wurden verletzt und verkrüppelt und 40.000 in den wirtschaftlichen Ruin getrieben. Insgesamt forderte diese Pogromwelle unter den russischen Juden ungefähr 1000 Tote, 7000 bis 8000 Verwundete (viele davon dauerhaft schwerbeschädigt) sowie Eigentumsverluste in Höhe von 62.700.000 Rubel (ca. 31 Millionen Dollar).“Hunderttausende Juden, die dem Gemetzel entkommen waren, verließen ihr Zuhause und machten sich auf den Weg nach Westen: nach England, Südamerika und in die Vereinigten Staaten – voller Zweifel, wie man sie dort aufnehmen mochte. Ob zu Fuß oder mit dem Fuhrwerk, per Zug und Schiff, wer konnte, brach auf und ließ nicht häufig sein gesamtes Hab und Gut zurück. In diesen von Gewalt erfüllten Jahren wanderten auch einige von Yehezkels Geschwistern – sein jüngerer Bruder und eine ältere Schwester – sowie andere Verwandte nach Amerika oder nach Palästina aus. Er selbst jedoch beschloss, vorerst in Russland zu bleiben, da er am Anfang einer außergewöhnlichen rabbinischen Laufbahn stand.
Das Land wurde seit Januar 1905 immer wieder von revolutionären Unruhen erschüttert; damals hatten Soldaten, die das Winterpalais in St. Petersburg bewachten, das Feuer auf demonstrierende Arbeiter eröffnet. Die Pogrome im November 1905 waren eine Folge der Unruhen und fanden überwiegend unter der Führung von Nationalisten statt. Linke Revolutionäre lehnten sie ab; Juden, die sich zu Selbstverteidigungseinheiten zusammengeschlossen hatten, setzten sich unter Waffeneinsatz zur Wehr. 1906 durchlief eine letzte Welle der Grausamkeit das Land; danach nahmen Ausmaß und Häufigkeit der Pogrome drastisch ab. Die antisemitische Umklammerung, der die Juden sowohl von den politisch linken als auch von den rechten Parteien ausgesetzt waren, lockerte sich, sobald die marxistischen Revolutionäre mehr Arbeiter und Bauern für sich gewannen als ihre anarchistischen Gegner. Die Marxisten lehnten nicht nur Pogrome ab, sondern auch jegliche Strategie, die sich religiöser wie nationalistischer Motive bediente, um die Menschen zu entzweien.
Fünfundzwanzig Jahre mit Pogromen und Gegenreaktion auf dem Land sowie Revolution und intellektueller Gärungsprozess in den Städ- ten blieben jedoch nicht folgenlos. Junge Juden, die sich in weltlichen Kreisen bewegten, ertrugen den gegenwärtigen Zustand nicht länger. Drei Ansichten wetteiferten miteinander: Sich dem Zionismus zuzuwenden bedeutete, entweder nach Palästina auszuwandern oder sich dafür einzusetzen, dass ein anderes politisches und geografisches Schutzgebiet für Juden eingerichtet wurde. Des Weiteren kam die Möglichkeit einer geregelten Emigration in Betracht: in ein Land, das bereit war, die Neuankömmlinge zu integrieren; dies führte zu einer Auswanderungswelle in die Vereinigten Staaten und, in geringerem Maße, nach Großbritannien. Und nicht zuletzt war es denkbar, die revolutionären Umtriebe innerhalb Russlands zu intensivieren, damit man die alte antisemitische Autokratie und die nationalistischen Bewegungen hinwegfegen und durch eine internationalistisch gesinnte Regierung ersetzen konnte. So erklärt es sich, dass in Russland junge, weltlich eingestellte Juden verstärkt dazu neigten, sich dem Marxismus und nicht-antisemitischen anarchistischen Gruppierungen zuzuwenden. Das geschah nicht zufällig, sondern war eine völlig folgerichtige Reaktion auf die Ereignisse in Russland. Nach dem Pogrom von Kischinjow beschafften sich immer mehr Juden Waffen, um den pogromschtschiki Widerstand zu leisten. Andere rüsteten sich, gegen die zaristische Regierung zu kämpfen, weil diese ihrer Meinung nach den Pöbel aufwiegelte. Sie schlossen sich den Bolschewiki und anderen Gruppen an, die den Sturz des Zaren und die Gründung eines Arbeiterstaats forderten.
(Fortsetzung folgt)