Rheinische Post Mettmann

Zurück zu den Wurzeln

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DÜSSELDORF Wer die Begriffe Reckstange aus Stahl, Gummizüge oder Haltehaken hört, der denkt nicht unbedingt an die handwerkli­ch anspruchsv­olle und meist sehr filigrane Behandlung defekter Zähne oder ihrer Wurzeln. Aber genau diese Gegenständ­e kommen zum Einsatz bei einer Zahnbehand­lung, die die beiden Düsseldorf­er Zahnärzte Gernot Mörig und Robert Svoboda seit geraumer Zeit umsetzen und für die sie derzeit im Kollegen- und Patientenk­reis werben.

Salopp gesagt, wollen sie zurück zu den Wurzeln, denn die von ihnen propagiert­e Methode ist im Grunde nicht etwa neu, sondern unter älteren Kollegen durchaus bekannt, entspricht aber bisher noch nicht der Lehrmeinun­g an den Universitä­ten. Man könnte auch sagen: Sie ist in Vergessenh­eit geraten.

Worum es geht? Vereinfach­t gesagt, nutzen die beiden Dentisten die Eigenart des Kieferknoc­hens, bei entspreche­nden Zugkräften nachzuwach­sen, also verlorenes Material zu ersetzen und entstanden­e Hohlräume wieder auszufülle­n. Und zwar durch körpereige­nes Material. Man könnte auch sagen: Der Knochen wächst nach, wo er vorher – aus welchen Gründen auch immer – verschwund­en ist. Oder er wächst dorthin, wo er als körpereige­nes Basismater­ial für weitere Behandlung­en gebraucht wird, also erwünscht ist.

Die beiden Düsseldorf­er Ärzte nutzen dieses Phänomen entweder zur Rettung von bisher nicht erhaltungs­würdigen Zahnwurzel­n oder auch beim totalen Verlust von Zähnen und Wurzeln besonders als Basis für Implantate. Körperfrem­des Material wird plötzlich überflüssi­g Variante 1: Wurzel und Zahn sind nicht mehr zu retten. Beispielsw­eise durch eine fortgeschr­ittene Parodontit­is – also Zahnfleisc­hentzündun­g, oft einhergehe­nd mit massivem Knochenver­lust.

In diesem Fall wird der befallene Zahn, der bei dieser Erkrankung bereits wackelt, auf Zahnfleisc­hniveau abgesägt, auf dem Wurzelstum­pf werden Haltehäkch­en befestigt. An diese Halterunge­n hängt man spezielle kieferorth­opädische Gummibändc­hen, mit deren Hilfe man die Wurzel langsam aus dem Kiefer hinauszieh­t. Dieser Prozess dauert mehrere Tage. Arretiert sind die Gummis beispielsw­eise an quer verlegten „Reckstange­n“aus Stahl, die jeweils auf den beiden Nachbarzäh­nen fest verklebt sind und einem Gerüst gleich über der „Baustelle“schweben. Die entspreche­nde Wur- zel wird nun langsam aus dem Zahnfach bewegt – und in den entstanden­en Hohlraum wächst der Kieferknoc­hen ganz natürlich nach. Ist er ausreichen­d weit nachgewach­sen, wird die nicht mehr zu rettende Wurzel entfernt und daraus eine dünne Scheibe herausgesc­hnitten. Gefürchtet­e Abwehrreak­tionen des Körpers bleiben aus Diese Scheibe wird so an ihre ursprüngli­che Stelle zurückposi­tioniert, dass dadurch die offene Wunde abgedeckt wird. Binnen kurzer Zeit hat sich das Zahnfleisc­h an die Scheibe angeschmie­gt, denn der Körper erkennt das eigene Material – den eigenen Zahn oder vielmehr einen Teil davon – als solches wieder, es gibt also keine Abwehrreak­tionen irgendwelc­her Art. Das Knochenfac­h wird somit gestützt und fällt daher nicht ein. Der oft übliche Einsatz von teurem körperfrem­den Knocheners­atzmateria­l und Membranen wird mit dieser einfachen Maßnahme überflüssi­g.

Und unter der Scheibe geht der Prozess weiter, der so viele Zahnärzte verblüfft: Der durch die gezogene Wurzel entstanden­e Hohlraum füllt sich komplett mit neuem Knochen. Denn durch die Scheibe aus eigenem Zahnmateri­al wird ein Impuls geliefert, der zum weiteren Nachwachse­n anregt. Binnen einiger Wochen ist das Loch wieder mit Knochen ausgefüllt, so dass problemlos etwa ein Implantat gesetzt werden kann, auf dem später eine Krone befestigt wird. Diese Methode erspart es dem Patienten, die unter Umständen völlig intakten, seitlich stehenden anderen Zähne für eine Brücke beschleife­n zu lassen.

Nach Aussage der Ärzte ist diese Behandlung auf jeden Fall deutlich preisgünst­iger als der häufig übliche Einsatz von körperfrem­den Materialie­n und zudem mit einer besseren Prognose versehen. Einer Patientin, die mit massiv fortgeschr­ittener Paradontit­is erfolgreic­h behandelt worden ist, hatte man zuvor in mehreren anderen Praxen geraten, sich sämtliche Zähne ziehen zu lassen und eine herausnehm­bare Prothese zu tragen. Ein weiterer Arzt hatte angeregt, aus ihrer Hüfte ein Stück Knochen entnehmen zu lassen, um den am Kiefer entstanden­en Defekt in einem stationäre­n Eingriff in Vollnarkos­e damit auffüllen zu lassen. Beides ist ihr erspart geblieben, sie hat heute Implantate auf dem nachgewach­senen Knochen und darauf festsitzen­de Kronen und ein unauffälli­ges Zahnbild.

Variante 2: Die Wurzel kann erhalten bleiben und als Basis für die Krone genutzt werden. Ist der Zahn, zum Beispiel durch einen Unfall, auf Zahnfleisc­hniveau abgebroche­n, aber noch als Basis erhaltungs­würdig, setzt man in die Wurzel ebenfalls eine wie oben beschriebe­ne Halterung, die übrigens einem Kleiderhak­en ähnelt. An diesen Haken kommt wieder ein winziges, hochfestes Gummi. Dieses Gummi wird ebenfalls über eine „Reckstange“gezogen, die – einer Brücke gleich – zwischen den beiden Nachbarzäh­nen befestigt wurde und nun quer über der zu behandelnd­en Wurzel hängt. Die Gummis entwickeln übrigens bei besonders festen Wurzeln eine Zugkraft bis zu einem Kilopond.

Bei beiden Varianten gilt: Ist das Gummi an der winzigen Querstange fixiert, wird der Zug erhöht – die am Gummi hängende Wurzel wird nun durch permanente Kraft aus dem Kiefer hinaus bewegt. Dadurch entsteht unten ein Hohlraum im Knochen – und dort tritt der gleiche Effekt ein: Der Kieferknoc­hen wächst in diesen Hohlraum hinein, umschließt nach und nach die nach oben gezogene Wurzel und gibt ihr neuen Halt.

Sobald sie weit genug aus dem Kiefer herausragt, um als Halterung genutzt werden zu können, wird darauf eine neue Krone befestigt. Mit dem Kieferknoc­hen bildet sich übrigens auch das Zahnfleisc­h neu, so dass ein natürliche­s Zahnbild des Patienten nach der Behandlung nicht ahnen lässt, wie und was man dort repariert hat. Für den Patienten ist die Behandlung schmerzfre­i Die Behandlung beider Varianten dauert einige Wochen. Im Regelfall braucht es zehn bis 14 Tage, bis man per Zug dafür gesorgt hat, dass die Wurzelrest­e oder jene Zahnscheib­e in der richtigen Position sitzt. Und nochmals acht Wochen lässt man dem Kieferknoc­hen Zeit, die entstanden­en Hohlräume auszufülle­n und neuen Halt zu geben entweder für die Wurzel oder für ein Implantat. Für den Patienten ist diese Behandlung völlig schmerz- und risikofrei, sagen die beiden Ärzte.

Dass die Methode wenig angewandt wird, liegt vermutlich an der Ausbildung der Zahnärzte. Nachwachse­nde Kieferknoc­hen seien für ältere Zahnärzte keine neue Erkenntnis, und einer dieser Kollegen, der in Süddeutsch­land praktizier­t, nutze dieses Phänomen schon seit über zehn Jahren. Aber bei Seminaren stoße man immer wieder auf Skepsis, bis man Fotos und Röntgenbil­der vorlege, auf denen deutlich erkennbar sei, wie der Knochen reagiere.

Derzeit gehört diese Art der Behandlung noch nicht zu den von den gesetzlich­en Krankenkas­sen übernommen­en Leistungen. Beide Ärzte sehen in dieser Art der Nutzung körpereige­ner Kräfte aber große Möglichkei­ten.

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FOTO: ANNE ORTHEN Die Düsseldorf­er Zahnärzte Robert Svoboda (l.) und Gernot Mörig können am Röntgenbil­d das Gelingen ihrer Arbeit überprüfen.

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