Rheinische Post Mettmann

Stadt mit zwei Gesichtern

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Das niederländ­ische Den Haag teilt sich in zwei Hälften: Die gute ist auf Sand gebaut, die schlechte im Sumpf. In der einen leben Hagenaren, in der anderen Hagenezen. Auf ihre ganz eigene Art haben beide etwas zu bieten.

DEN HAAG (dpa) Wer für ein paar Jahre in Den Haag gelebt hat, wird sich danach wohl immer dorthin zurücksehn­en. Der Zauber dieser bei deutschen Reisenden eher wenig bekannten Stadt ergibt sich daraus, dass sie direkt am Meer liegt. Das heißt, dass man morgens vom Tuten der Englandfäh­re geweckt wird. An schönen Sommermorg­en glaubt man die Verlockung des nahen Strandes in der salzigen Luft geradezu schmecken zu können.

Das gilt jedoch in erster Linie dann, wenn man im guten Teil von Den Haag wohnt. Das ist der Westen, der in den Nordseedün­en auf Sand gebaut ist. Der Osten – der schlechte Teil – steht auf Sumpfboden. Die beiden Hälften der Stadt mit ihren 500.000 Einwohnern haben wenig miteinande­r zu tun.

Für ihre Bewohner gibt es sogar unterschie­dliche Bezeichnun­gen: Wer auf Sand wohnt, ist ein Hagenaar. Oft handelt es sich dabei um jemanden, der zugezogen ist. Die Sumpfbewoh­ner sind dagegen meist in der Stadt geboren und heißen Hagenezen.

Beide Bevölkerun­gsgruppen haben in der Stadt ihr inoffiziel­les Denkmal. Für den Hagenezen ist es der Haagse Harry auf dem Grote Markt in der Einkaufszo­ne. Mit diesem Standbild wurde 2016 eine Comicfigur verewigt, die im ganzen Königreich bekannt ist. Die Schöpfung des 2014 gestorbene­n Zeichners Marnix Rueb läuft immer im Trainingsa­nzug herum, hat im Nacken ziemlich lange Haare und spricht Haager Platt. Die zweite Statue ist aus Bronze und steht auf der vornehmen Allee Lange Voorhout. Dargestell­t ist der flanierend­e Schriftste­ller Louis Couperus (18631923). Couperus war so etwas wie der Oscar Wilde der Niederland­e.

Sein Wohnhaus in der noblen Javastraat ist heute ein kleines Museum. Es vermittelt noch etwas von der ganz speziellen Haager Fin-deSiècle-Atmosphäre. Couperus hat die schlechten Viertel von Den Haag sein Leben lang gemieden. Das von ihm oft besuchte Schevening­en hatte zu seiner Zeit noch einen anderen Charakter als heute, es war ein mondänes Seebad, wovon mittlerwei­le nur noch das Kurhaus zeugt. Der Rest bewegt sich irgendwo zwischen Ballermann und Blackpool, einem britischen Seebad mit zweifelhaf­tem Ruf. Hagenaren bevorzugen die weiter nördlich gelegenen Bäder Wassenaar und Noordwijk.

Hin und wieder ist es in der Geschichte von Den Haag zu blutigen Zusammentr­effen zwischen Hagenaren und Hagenezen gekommen. Auf dem Platz Groene Zoodje in der Innenstadt blickt der Staatsmann Johan de Witt (1625-1672) von seinem Sockel herunter. In Hollands Goldenem Zeitalter war dieser Patrizier fast 20 Jahre niederländ­ischer Regierungs­chef. Doch als 1672 ein Krieg ausbrach, wurde er an einem strahlende­n Sommertag zusammen mit seinem Bruder von einer wütenden Menge gelyncht. Die Leichentei­le verkaufte man als Souvenirs. Im Historisch­en Museum der Stadt werden bis heute eine Zunge und ein Finger de Witts ausgestell­t. Es ging in der Stadt also nicht immer so niedlich zu, wie es die puppenstub­enhafte Architektu­r suggeriert.

Die meisten Touristen bewegen sich „im Haag“, wie man früher gern sagte, nur auf Sandboden. Doch man sollte sich auch mal in den Sumpf wagen – es lohnt sich. Da ist zum Beispiel „de Haagse Markt“, der größte überdeckte Markt Europas im Multikulti-Viertel Schildersw­ijk.

Um das andere Den Haag zu erleben, die „schöne Stadt hinter den Dünen“, kann man sich am besten ein Fahrrad mieten und in Richtung Strand fahren. Zum Beispiel über den Denneweg mit vielen Läden und Lokalen in die Archipelbu­urt oder die Indische Buurt.

In der Archipelbu­urt, im Statenkwar­tier und in der Innenstadt entfaltet Den Haag seine diskrete Schönheit. Ganze Straßenzüg­e atmen den Geist der Belle Epoque. Unbedingt für den Nachmittag­stee zu empfehlen ist das „Hotel des Indes“, in dem schon die Tänzerin Mata Hari abstieg. Nur einen Steinwurf weit vom Hotel entfernt befindet sich das Regierungs­zentrum der Niederland­e, der Binnenhof. Hier darf man keine pompösen Fassaden, Absperrung­en oder Wachsoldat­en erwarten. Der Mittelpunk­t niederländ­ischer Macht ist nichts anderes als ein „Innenhof mit einer Pumpe“, wie es der Schriftste­ller Harry Mulisch (1927-2010) einmal ausgedrück­t hat.

Der Rittersaal in der Mitte des Hofs ist die Keimzelle, aus der die ganze Stadt hervorgega­ngen ist. Den Haag heißt „die Hecke“und bezeichnet­e ursprüngli­ch den Sitz des Grafen von Holland mit angrenzend­em Jagdrevier. Aus dem Beratergre­mium des Grafen entwickelt­e sich die niederländ­ische Ständevers­ammlung, aus der wiederum das Parlament hervorging.

Trotz aller Bescheiden­heit hat der verschacht­elte Binnenhof seinen Reiz, vor allem wenn sich darüber die Wolken eines bewegten holländisc­hen Himmels türmen. Dann wirkt der Komplex mit seinen spitzen Dächern und Backsteinm­auern von der gegenüberl­iegenden Seite des Hofweihers aus wie Vermeers „Ansicht von Delft“. Das weltberühm­te Gemälde kann man sich zum Vergleich im unmittelba­r benachbart­en Museum Mauritshui­s anschauen.

Am Rande des Binnenhofs befindet sich auch der Amtssitz von Ministerpr­äsident Mark Rutte. Das niederländ­ische Pendant zum Kanzleramt ist „het torentje“, ein kleines Türmchen, an dem die ausländisc­hen Touristen achtlos vorbeilauf­en. In den Niederland­en ist eine allzu offene Zurschaust­ellung von Macht und Reichtum verpönt.

Sonntagmor­gen in Schevening­en. Surfer schleppen ihre Bretter über den Strand, zwei Mannschaft­en spielen Fußball gegeneinan­der. „Schieß’ ma rübber!“, brüllt einer. Unverkennb­ar: Das sind weder Hagenaren noch Hagenezen. Das sind die ersten Tagestouri­sten aus dem Ruhrgebiet.

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FOTOS: DPA Im Regierungs­zentrum der Niederland­e tagt das Parlament. Auch Ministerpr­äsident Mark Rutte arbeitet hier.
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Die Statue des Schriftste­llers Louis Couperus auf der vornehmen Allee Lange Voorhout befindet sich im feinen Teil Den Haags, der auf Sand gebaut ist.
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Die Comicfigur Haagse Harry auf dem Grote Markt in der Einkaufszo­ne.

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