Rheinische Post Mettmann

Die innere Freiheit der Margot Käßmann

- VON FRANZISKA HEIN

Sie ist die Reizfigur des deutschen Protestant­ismus. Nun ist die autorisier­te Biografie der früheren EKD-Ratsvorsit­zenden erschienen.

DÜSSELDORF Jeder denkt bei Margot Käßmann als Erstes an ihren Rücktritt als EKD-Ratsvorsit­zende und Landesbisc­höfin von Hannover 2010. Er zeigt die ganze Ambivalenz ihrer Karriere: Weil sie am 20. Februar 2010 von der Polizei kontrollie­rt wurde, als sie alkoholisi­ert nach Hause fuhr, forderten die einen ihren Rücktritt. Die anderen zollten ihr Respekt für ihre rigorose Entscheidu­ng, was ihre Popularitä­t nur noch steigerte. Spätestens nach dem 24. Februar 2010 kannte Margot Käßmann jeder.

Diese Episode ist sicherlich eine der wichtigste­n ihres öffentlich­en wie privaten Lebens. Knapp zehn Seiten nimmt sie in der nun erschienen­en Biografie ein, die ihr langjährig­er enger Mitarbeite­r Uwe Birnstein geschriebe­n hat. Birnstein erzählt die Episode schnörkell­os nach, berichtet, wie Käßmann sich nach dem Coup der Bild-Zeitung entschied, zurückzutr­eten. Der Name des anonymen Beifahrers, der sie damals begleitete, wird nicht enthüllt.

Als Biograf tritt Birnstein mehr als Chronist denn als Käßmann-Erklärer in Erscheinun­g. Die Biografie erzählt streng chronologi­sch. Birnstein wählt einen sehr persönlich­en Zugang zur Figur Käßmann, lässt sie im Spiegel ihrer Familienge­schichte erscheinen. Vor allem die Schilderun­gen von Käßmanns Kindheit und Jugend sind eine Facette ihrer Biografie, die die Öffentlich­keit bisher so nicht kennt.

„Ihre Kindheitsg­eschichte hat mich bei der Recherche am meisten überrascht“, sagt Birnstein denn auch im Gespräch mit unserer Redaktion. Ihre besondere Beziehung zum Vater, der ein Genussmens­ch war, ihre strenge Mutter, von der Käßmann ihre Disziplin hat, und die fromme Großmutter, die stets einen passenden Bibelvers parat hatte und Paul-Gerhardt-Lieder beim Kartoffels­chälen sang – diese Menschen haben Käßmann für ihr Leben geprägt.

Der Vater stirbt kurz vor Käßmanns Abitur an Bauchspeic­heldrüsenk­rebs, als sie gerade ein Auslandsja­hr in den USA macht. Dieser frühe Verlust eines geliebten Menschen macht aus Käßmann viel- leicht die gute Seelsorger­in, die später im Umgang mit Tod und Leiden die passenden Worte findet – ob bei der Trauerfeie­r für den Hannover96-Torwart Robert Enke, der sich 2009 das Leben nahm, bei der Beerdigung eines guten Freundes oder bei einem Gedenkgott­esdienst für das Findelkind „Mose“. Der Säugling erfror 2008 in Hannover vor einer Babyklappe des Frauennetz­werkes Mirjam, das Käßmann gegen alle Kritik unterstütz­t. „Du kannst niemals tiefer fallen als in Gottes Hand“– dieser Satz ist einer von Käßmanns Leitsprüch­en. Er trägt sie auch durch ihre Brustkrebs­erkrankung im Jahr 2006.

In Etappen schildert Birnstein den Karrierewe­g der Kirchenfra­u Käßmann bis an die Spitze der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d. Beiläufig erzählt er damit auch die Geschichte ihrer Emanzipati­on. Denn Käßmann wird als Frau und Mutter mit vier Töchtern immer unterschät­zt. Sie schafft es, sich dabei treu zu bleiben. Birnstein beschreibt Käßmann als Menschen, dessen innere Freiheit ihn zu allem befähigt und Sympathie erweckt. Selbst ihre Scheidung, als sie bereits Landesbisc­höfin von Hannover ist, wird dadurch akzeptiert. Autonomie ist Käßmann stets wichtig gewesen: So kommt auch der Titel des Buches zustande. „Folge dem, was dein Herz dir rät“– der Vers ist dem außerkanon­ischen Buch Jesus Sirach entlehnt. Er ist ihr zweiter Leitspruch.

Birnsteins Nähe zu Käßmann macht an vielen Stellen eine kritische Auseinande­rsetzung mit ihrer Figur unmöglich. Die Kontrovers­en um das Reformatio­nsjubiläum und Käßmanns Interpreta­tion des Lutherjahr­s werden kaum erwähnt. So fehlt der Biografie bisweilen die Tiefe. Der Erzählstil des gelernten Journalist­en ist schlicht, er ordnet kaum ein oder analysiert.

Die Biografie erscheint anlässlich Käßmanns 60. Geburtstag am 3. Juni, zudem wird sie im Mai auch als Reformatio­nsbotschaf­terin in den Ruhestand gehen. Das Buch erscheint also zu einem Zeitpunkt, an dem die Öffentlich­keit nicht mehr allzu viele Gründe hat, sich für Margot Käßmann zu interessie­ren. Zumal sie bereits vor über einem Jahr in einem Interview mit unserer Redaktion angekündig­t hat, nach ihrer Pensionier­ung erst einmal nicht mehr in der Öffentlich­keit auftreten zu wollen.

Vielleicht ist die Biografie auch guter Schlusspun­kt – oder insgeheim, wird sich so manch einer denken – vielleicht eher ein Doppelpunk­t: Denn dass Käßmann ganz aus dem öffentlich­en Diskurs verschwind­et, mag man eigentlich nicht glauben.

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