Ein Jugendprotest, der die Welt veränderte
Die 68er-Bewegung ist politisch gescheitert, hat aber das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik und des Westens insgesamt tief geprägt.
Er führte die erste rot-grüne Koalition, aber als 68er hat er sich nie gesehen. Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder war 24 Jahre alt und hatte gerade über den zweiten Bildungsweg sein Jura-Studium begonnen, als die Studentenproteste im Frühjahr 1968 in Deutschland ihren Höhepunkt erreichten. Trotzdem blieb der spätere SPD-Kanzler zeitlebens auf Distanz zur aufmüpfigen 68erGeneration. „Eine Gesellschaft, die mir den Aufstieg ermöglichte, konnte ich nicht als Gegner betrachten“, sagte Schröder im Interview-Buch „Klare Worte“.
Da konnte sich sein damaliger Außenminister Joschka Fischer schon eher mit den Protesten identifizieren – und einige im Kabinett ebenfalls. Als 1998 eine Koalition aus SPD und Grünen die politische Führung der Bundesrepublik übernahm, da schien es, als sei die Protestgeneration von 1968 endgültig an ihrem Ziel angekommen. Tatsächlich führte Rot-Grün den ersten Krieg Deutschlands nach 1945 und liberalisierte den Arbeitsmarkt.
Das war Meilen entfernt von den Forderungen der linken Studenten im April und Mai 1968, die von einer sozialistischen Revolution träumten. Was war damals geschehen – auf den Straßen von Berlin, Frankfurt, Paris, Mailand, Amsterdam oder London? Ausgerechnet in den reichsten Staaten der Erde gärte es unter der studentischen Jugend. Das System, geprägt durch eine entwickelte Demokratie und eine bis dahin nicht gekannte Produktivitäts- und Wohlstandsexplosion, wurde plötzlich infrage gestellt.
„Die Zeit war einfach reif – sozioökonomisch und materiell gesehen“, findet der Zukunftsforscher Matthias Horx, selbst ein Vertreter der 68er-Generation. Tatsächlich steckte der Geist der Revolte viele jungen Leute in den westlichen Staaten an. In Frankreich verbündeten sich die Studenten mit der Arbeiterbewegung im Mai 1968 und brachten das System der Fünften Republik, das General Charles de Gaulle gegründet hatte, ernsthaft ins Wanken. Der Generalstreik der zehn Millionen führte schließlich zum vorzeitigen Ende der Regierung de Gaulle. In den USA mobilisierte die Jugend gegen den Vietnam-Krieg, in Großbritannien ging sie gegen die verkrustete Klassengesellschaft auf die Straße. Auch Deutschland war Schauplatz von Massendemonstrationen gegen das „repressive“System, wie der Soziologe Herbert Marcuse es nannte. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Gerade in den 60er Jahren fand, veranlasst durch den EichmannProzess in Israel und die Auschwitz-Verfahren in Deutschland, die erste intensive Debatte über das mörderische NS-Regime statt, dessen Parteigänger und Mitläufer auch in der neuen Bundesrepublik schnell Fuß gefasst hatten. Für viele war das der Einstieg. „Eine entscheidende Rolle spielte auch der gewaltsame Tod von Benno Ohnesorg“, ist Horx überzeugt. Die Staatsgewalt hatte nach einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs aus Persien am 2. Juni 1967 durch einen ihrer Ordnungskräfte brutal zugegriffen.
Dabei fingen die Proteste Anfang der 60er Jahre eher unspektakulär an. Die Studentenorganisation der SPD, der Sozialistische Studentenbund (SDS), rückte so stark nach links, dass die sozialdemokratische Führung 1961 die Gruppierung aus der Partei ausschloss. Als unabhängige Kraft organisierte der SDS dann schon etwas sichtbarer Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und inszenierte spektakuläre Aktionen gegen ausländische Staatsgäste – vor allem aus den USA und Ländern mit autoritären Regierungen. Ideologisch wurden die Proteste mit einem Verschnitt aus dem neomarxistischen Gedankengut der Frankfurter Schule um Theodor Adorno, Max Horkheimer und Marcuse sowie den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt aufgeladen. Zu- gleich wurde die Institution der Hochschule attackiert, die „Ordinarienuniversität“, die trotz ihrer Selbstverwaltung als hierarchisch und wenig modern empfunden wurde. „Unter den Talaren“wurde der „Muff von 1000 Jahren“vermutet. Dass ausgerechnet die von den Alliierten als demokratische Erziehungsmaßnahme gegründete Freie Universität Berlin und weniger die Traditionsunis im Westen im Mittelpunkt der Proteste standen, gehört zur Ironie der Studentenbewegung. West-Berlin war zum Biotop des Protests geworden, der republikflüchtige Studenten aus der DDR, die an eine bessere Umsetzung der marxistischen Ideologie glaubten, und die die neue Freiheit genießenden Kommilitonen aus dem „Wirtschaftswunderland“Bundesrepublik gleichermaßen erfasste.
Den Höhepunkt erreichten die Proteste nach dem Attentat auf den SDS-Wortführer Rudi Dutschke am 11. April 1968. In den meisten westdeutschen Universitätsstädten folgten Protestaktionen, Demonstrationen und auch gewalttätige Ausei- nandersetzungen. Gleich zweimal befasste sich der Bundestag mit den Osterunruhen, die dann allerdings auch wieder schnell abflachten.
Trotz aller studentischen Aktionen wie Teach-ins, Go-ins oder Love-ins stellte sich schnell heraus, dass die so sehnlich erwartete Revolution ausblieb. Die deutsche Arbeiterklasse stand den Studenten eher skeptisch gegenüber, auch die Gewerkschaften gingen auf Distanz.
Dafür griff der Geist des Protests auf die Jugend insgesamt über. Der 68er Horx sieht es so: „Die Träume von einem anderen Leben, von Liebe, Lebens-Intensität und SelbstVeränderung – das war für mich der Kern des Wandels. Die 68er Bewegung ging ja weit über das Politische hinaus. Es ging um eine neue Musik, neue Formen der Alltagsbewältigung, um alternative GesellschaftsStrukturen. Ehe und Familie wurden infrage gestellt, die sexuelle Befreiung spielte eine große Bewegung. Die Männer trugen lange Haare, ein Zeichen für mehr Weiblichkeit.“
Das hat die Generation von damals bewegt – und bei ihrem langen Marsch durch die Institutionen zum Teil beibehalten. Das Ergebnis bewertet Horx überwiegend als positiv: „Die Gesellschaft ist durch 1968 sichtbar vielfältiger geworden. Die Debattenkultur hat sich stärker demokratisiert. Damit ist die Gesellschaft insgesamt demokratischer und toleranter geworden.“
Ob sich das alles auch ohne die Proteste von damals so entwickelt hätte, ist müßig. Die politische Ideologie der 68er ist gescheitert. Aber die demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik hat sich als flexibel genug erwiesen, den Optimismus und die Energie der Protestgeneration aufzunehmen. Die wiederum war pragmatisch genug, die Chancen zu ergreifen, die das angeblich so repressive System bot, einem Schröder wie einem Fischer.
Der Wortführer der Studenten war rhetorisch versiert, aber ideologisch verblendet.