Der Fürstenplatz kann einen verrückt machen
Dieser Ort ist wie das Leben: Man läuft immer nur hin und her und weiß am Ende nicht mal, wo das Auto steht.
Beim Surfen im Internet stieß ich auf einen jungen Künstler, der in Düsseldorf an der Kunstakademie studiert. Sein Name ist Harkeerat Mangat. Ich las über ihn, dass er an einem Film namens „Fürstenplatz“arbeite. Über Facebook nahm ich Kontakt mit ihm auf und fragte ihn, wovon der Film handele und warum er Fürstenplatz heiße. Er antwortete, dass ihn der Platz fasziniere. Er sei eine „Metapher für das Leben und dessen Fortschreiten“. Es gebe Sandkästen für die Kinder, ein Fußballfeld für Jugendliche, dazu Cafés und die St.Antonius-Kirche für die Erwachsenen. Der Film, der 2019 erscheine, schildere das Leben mehrerer Patienten eines Psychologen. Jede Person werde an einem anderen Ort des Fürstenplatzes vorgestellt. Der Film zeige, wie sie alle ihren individuellen Weg durchs Leben gehen. So wie jeder, der den Fürstenplatz überquert, dies auf eigene Art tut.
Der Gedanke fesselte mich: ein Platz als Metapher fürs Leben. Ich bin seit jeher empfänglich dafür, übergroße Dinge (das Leben!) greif- bar zu machen und auf ein Maß zu schrumpfen, das es erlaubt, sich einen Überblick zu verschaffen. Und so fuhr ich hin, zum Fürstenplatz, der in Friedrichstadt liegt und einer der bekanntesten Plätze Düsseldorfs ist. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es stimmt. Der Fürstenplatz hat metaphysische Größe.
Im Unterschied zum Leben, das man ein einziges Mal von vorne bis hinten lebt, ohne eine Chance, Episoden zu wiederholen oder andersherum ablaufen zu lassen, bietet ein Platz den Vorteil, dass man ihn mehrmals umrunden kann, um sich einen Eindruck von den Möglichkeiten zu verschaffen und dann zu entscheiden, wo man verweilen oder aktiv werden möchte. Meine erste Aktion bestand darin, eine alte Dame zu fragen, nach welchen Fürsten der Platz benannt sei. Sie sagte, keine Ahnung, und fragte eine ungefähr gleichaltrige Dame, die auf uns zukam, aber sie wusste es auch nicht. Wie ich mich verabschiedete, bemerkte ich, dass die beiden sich kannten und eine Unterhaltung begannen.
Die Sonne schien, es war nachmittags. Immer mehr Kinder und Erwachsene bevölkerten den Platz. Überall Bewegung. Fliegende Bälle. Eis essende Erwachsene. Ich hatte den Platz dreimal umrundet, als ich vor dem „Industriebrunnen“am einen Ende des Platzes stehen blieb – einem Kunstwerk aus drei überlebensgroßen Bronzefiguren: einem Schmied, einem Bergmann und einem Hüttenarbeiter. Es steht unter Denkmalschutz. Wieso, fragte ich mich, stehen immer nur leblose Sachen unter Denkmalschutz? Wieso stellt man nicht den Menschen unter Denkmalschutz? Wir wären viele Sorgen los, wenn amtlich beschlossen wäre, dass an dem Menschen nicht zu rütteln ist. Dass er, so wie er ist, Bestand haben muss.
Ich glaube, der Gedanke ging auf das Konto der lebensphilosophischen Energie des Fürstenplatzes, die auch den Filmemacher Mangat inspiriert. Ich umlief den Platz in umgekehrter Richtung. Die beiden Damen plauderten noch miteinander, schienen mich aber nicht mehr zu erkennen. Nach der fünften Um- rundung wusste ich nicht mehr, in welcher der gefühlt hundert Straßen, die auf den Platz zulaufen, ich geparkt hatte. Geht es um das Leben an und für sich, heißt es ja immer: Vergiss nie, wo du herkommst! Tja – wo kam ich her? Wo zum Teufel hatte ich geparkt?! Es war wie ein Schwindel, der mich packte.
Ich verstand auf einmal, warum die Darsteller in Mangats Film alle beim Psychologen sind: Der Fürstenplatz kann dich irre machen. Wie das Leben. Eh du dich versiehst, ist richtig viel Zeit vergangen, aber du bist immer nur hin und her und weißt nicht mal mehr, wo dein Auto steht. An einer Straßenecke fiel mir eine Fahrschule auf. Drinnen saß eine Dame hinter einem Kunstwerk von Schreibtisch, der gebaut war aus der türkisfarbenen Front eines alten Cadillacs, mit einer Glasplatte oben drauf. Ich fragte die Dame, wie sich das anfühle, an dem Tisch zu arbeiten. Sie betonte erst, er sei ein Hingucker. Dann rückte sie damit heraus, dass ihm etwas Entscheidendes fehle. Ich: „Der Achtzylindermotor?“Sie: „Schubladen!“
Der Platz wurde mir immer ungeheuerlicher. Was hatte ich mit den fehlenden Schubladen eines Cadillacs zu schaffen?! Hatte das irgendwie mit dem Parkplatz zu tun, an den ich mich nicht erinnerte? Zu welchem Psychologen gehen Mangats Figuren? Kann ich die Adresse haben?
An einem Fenster des Weinlokals „Feinstil“klebte ein Plakat mit Christian Lindner, dem FDP-Chef, der dort Ende April auftritt. Besser keinem Politiker zuhören als dem falschen, dachte ich. Dann: Was genau ist mit Lindner passiert? 2017 war er öffentlich so präsent wie Donald Trump. Seither ist er wie abgetaucht (Trump leider nicht). Ich ging hinein in das Lokal. Wiland Watzenberg, der es gemeinsam mit seiner Schwester und seinem Schwager führt, erzählte mir, dass Lindner, der am Fürstenplatz wohnt, immer mal wieder bei ihm einkehre. Ich will ja keine falschen Gerüchte in die Welt setzen. Aber wie konnte es passieren, dass Lindner seinen Parkplatz im politischen Leben so leichtfertig verspielte? Hat es mit den unvorhersehbaren Energien zu tun, die der Fürstenplatz aussendet?
Ich konnte nicht mehr aufhören, an Harkeerat Mangat zu denken und seine Idee, den Fürstenplatz als Metapher fürs Leben mit all seinen kaum zu durchschauenden Windungen zu begreifen. Kurz bevor ich meinen Wagen (eher zufällig) wiederfand, begegnete ich zum dritten Mal der alten Dame, die ich nach dem Namen des Fürstenplatzes gefragt hatte. Sie war nun alleine und ging mir entgegen. Wieder erkannte sie mich nicht. Wie ein roter Faden zogen sich die Begegnungen mit ihr durch meinen Besuch des Fürstenplatzes. Als würden sie etwas bedeuten. Nur dass ich beim besten Willen nicht weiß, was.