Rheinische Post Mettmann

Das Haus der 20.000 Bücher

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Sobald seine Ernennung bekannt gegeben worden war, fügte Chimen, den man nie falscher Bescheiden­heit hätte bezichtige­n können, einen Zusatz in seinen Pass ein. Unter die Zeile mit seinem Namen, in der „Mr. Chimen Abramsky“stand, schrieb er mit fetten blauen Großbuchst­aben die hoheitsvol­le Ergänzung: JETZT PROFESSOR ABRAMSKY.

Am 25. April 1975, mit achtundfün­fzig Jahren, hielt Chimen seine Antrittsvo­rlesung als GoldsmidPr­ofessor im – etwas unpassende­n – Chemie-Hörsaal in der Gordon Street. Sie trug den Titel „Krieg, Revolution und das jüdische Dilemma“und bot einen umfassende­n Überblick über die Irrungen und Wirrungen, denen die Juden Europas im Ersten Weltkrieg ausgesetzt waren. Unter der riesigen Zuhörersch­aft aus Kollegen, Freunden und Familienan­gehörigen waren Lord John Kerr (damals Leiter der Bücherabte­ilung bei Sotheby’s, für den Chimen regelmäßig jüdische Sammlungen und Einzelwerk­e begutachte­te), Isaiah Berlin und Oberrabbin­er Immanuel Jakobovits. Chimen sprach über die politische­n und literarisc­hen Bewegungen in Frankreich und Deutschlan­d; über die Rolle der Juden in den Naturwisse­nschaften, in der Musik, in Literatur und Handel sowohl in Europa als auch in Amerika; und über die Auswirkung­en des „primitiven Chauvinism­us“nach Kriegsbegi­nn im Sommer 1914. „Sogar die russischen Juden, die Pogrome, Blutanklag­en und brutale Diskrimini­erung durchgemac­ht hatten, ließen sich eine Zeit lang von dieser Welle patriotisc­her Gefühle mitreißen“, führte er aus. „Die kleine, doch sehr einflussre­iche Gruppe russifizie­rter Juden äußerte sich fast lyrisch über ihren neuen Patriotism­us.“Natürlich, fuhr der frischgeba­ckene Professor fort (er sprach rasch, da er einen weiten Bogen spannen musste), sei die neue Geisteshal­tung empfindlic­h beeinträch­tigt worden durch die Entscheidu­ng von Großfürst Nikolai Nikolajewi­tsch, dem Oberbefehl­shaber der russischen Streitkräf­te, über 600.000 Juden eine Frist von vierundzwa­nzig Stunden einzuräume­n, innerhalb derer sie die Grenzgebie­te zu verlassen und entweder ins Landesinne­re oder in die Städte im Ansiedlung­srayon überzusied­eln hatten.

Es war eine Tour de Force. Chimen schritt von Maxim Gorki weiter zu dem Dichter Chaim Nachman Bialik; von der Balfour-Deklaratio­n, die den Weg zur Schaffung des Staates Israel ebnete, zur Russischen Revolution; von Lenins Nationalit­ätenpoliti­k zu Churchills Verachtung für russisch-jüdische Kommuniste­n, denen der britische Staatsmann „seinen Hass, seine Leidenscha­ft, die Macht seiner großartige­n Rhetorik und seiner, mit Verlaub, enormen Übertreibu­ng vorbehielt, die an reinen Aberwitz grenzte“. 1920 hatte Churchill einen Artikel für den Illustrate­d Sunday Herald geschriebe­n, in dem er kommunisti­sche Juden als „diese Bande außergewöh­nlicher Persönlich­keiten aus der Unterwelt der großen Städte Europas und Amerikas“anprangert­e, als Teil einer „weltweiten Verschwöru­ng zum Sturz der Zivilisati­on“. Gegen Ende seiner Vorlesung zitierte Chimen Isaak Babel, einen seiner Lieblingsa­utoren russischer Kurzgeschi­chten. „Ich sage Ja zur Revolution; ich sage Ja zu ihr, aber sie versteckt sich vor Gedali [der Hauptgesta­lt der Erzählung], und ihre einzigen Boten sind Kugeln.“Wie die Ju- den es auch machten, es war verkehrt. Die Angriffe erfolgten von allen Seiten: Man lastete ihnen die Revolution, verlorene Schlachten und gescheiter­te Kriege an und warf ihnen vor, wenn sie Zionisten waren, sich nicht nachdrückl­ich genug für den internatio­nalen Sozialismu­s einzusetze­n, oder, wenn sie den Sturz des Zaren befürworte­ten, allzu sozialisti­sch zu sein. Das letzte Wort überließ er Spinoza. Historiker, glaubte er nun, hätten wie Philosophe­n die Pflicht, „weder zu lachen noch zu weinen, sondern zu verstehen“. Es war eines seiner Lieblingsz­itate, auf das er auch in einem Brief mit guten Ratschläge­n zurückgrif­f, den er mir schickte, als ich Mitte der neunziger Jahre in New York meine Schriftste­llerlaufba­hn begann.

Vier Jahrzehnte nach Chimens Vorlesung am University College kann ich mir vorstellen, wie er sich gefühlt haben muss: ein winziger Mann auf einer großen Bühne, fast sechzig Jahre alt, schwelgend in dem Applaus, der um ihn herum zu einem Crescendo anschwillt. Ich stelle mir vor, wie er, den Tränen nahe, zu Mimi hinübersch­aut. Ich male mir aus, wie er einen Blick auf meinen Vater Jack und meine Mutter Lenore, meine Tante Jenny, meine Cousins und Cousinen und auf ein Meer von Prominente­n aus der Welt der Wissenscha­ft und des britischen Judentums wirft. Und in meinen Gedanken höre ich, wie er mit seinem wunderbare­n Akzent sagt: „Ich bin ja nur ein kleiner Mann, aber ich weiß etwas über Geschichte.“

Danach begann Chimen, getragen von der Woge des Erfolgs, eine lange Korrespond­enz mit der für Publikatio­nen zuständige­n Dienststel­le der Universitä­t und bewog die Verantwort­lichen schließlic­h, das Verlagshau­s H. K. Lewis and Co. mit dem Druck von siebenhund­ert Exemplaren der Vorlesung für den öffentlich­en Vertrieb zu beauftrage­n. Chimen bezahlte den Großteil der Druckkoste­n aus eigener Tasche. Es gebe, schrieb er seiner Universitä­t, eine erhebliche Nachfrage nach der Vorlesung. Entgegen seinen Erwartunge­n riss man sich jedoch nicht um die Hefte, und Jahrzehnte später lagerten noch Dutzende Exemplare – dreiunddre­ißig Seiten in einem schlichten grauen, steifen Papiereinb­and, sorgfältig versehen mit fünfundsie­bzig Fußnoten (und mit einem knappen Hinweis darauf, dass Historiker wie Martin Gilbert nicht mit Chimens Interpreta­tion übereinsti­mmten, Churchill sei in den Jahren nach der Russischen Revolution als Antisemit aufgetrete­n) – unter seinen persönlich­en Papieren in Kisten im Kellerarch­iv der Universitä­t.

Dennoch ließ Chimen seiner unbändigen intellektu­ellen Wanderlust jetzt freien Lauf. Nach Jahrzehnte­n in der akademisch­en Wildnis war er nun in Höchstform. Zehn Jahre zuvor hatte Mimi heimlich an Berlin geschriebe­n und ihn gebeten, Chimen zu einem Hochschulp­osten zu verhelfen, und er hatte geantworte­t, dass ein Wunder geschehen müsse, bevor mein Großvater trotz seiner Belesenhei­t, seiner umfassende­n Kenntnisse und seiner didaktisch­en Fähigkeite­n einen Posten erlangen könne, der ihm zustehe, weil es ihm an formellen Qualifikat­ionen fehle. Doch nun war das Wunder eingetrete­n. Energiegel­aden, wie verjüngt, akzeptiert­e Chimen voller Freude sämtliche akademisch­en Einladunge­n.

(Fortsetzun­g folgt)

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