Rheinische Post Mettmann

Die unheimlich­e Mutter

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es lässt einen nicht mehr los: das fasziniere­nde Gemälde von Eugène Carrière in der tollen Kunstpalas­t-Ausstellun­g „Black & White“.

Und da steht man dann vor diesem Bild, und es trifft und rührt einen, und man kann sich gar nicht davon lösen. Man blickt also auf die Mutter und ihre Tochter, und man denkt, dass die beiden wohl ahnen, dass ein Alleinsein kommen wird, gegen das sie jetzt rasch noch einen Vorrat an Gemeinsamk­eit anlegen wollen. Eines Tages werden sie einander vermissen, und so warten sie und wissen nicht, auf was. Aber sie warten zusammen, und das ist, was zählt.

Eugène Carrière hat das Bild um 1896/97 gemalt, und es ist Teil der großartige­n Schau „Black & White“über die Geschichte der Schwarz- Weiß-Malerei vom Mittelalte­r bis zur Gegenwart im Museum Kunstpalas­t. „Maternité (Souffrance)“lautet sein Titel, „Mutterscha­ft (Leiden)“also. Man tritt unvorberei­tet vor dieses Bild, und was man auf keinen Fall tun sollte, ist, sich dem ersten Eindruck zu ergeben: Das Bild mutet zunächst unheimlich an, gruselig sogar. Es ist unklar, ob das Gesicht der Frau, deren Umrisse sich in der nebeligen und dunklen Umgebung abzeichnen, Spuren einer Krankheit trägt. Schlafen die beiden? Haben sie Schmerzen? Befinden sie sich außerhalb der Zeit? Träumen sie? Man weiß es nicht. Und gerade das ist das Fasziniere­nde an dieser Arbeit, die an Gerhard Richter denken lässt.

Je länger man nun vor diesem ÖlGemälde verweilt, desto stärker scheint es sich zu verändern. Das Auge gewöhnt sich an die Szenerie aus Grau- und Brauntönen, wie es sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, wenn man nachts er- wacht. Das Gesicht des Kindes, so hat es nun den Anschein, streut Licht, und um Augen, Nase und Mund der Mutter schimmert es golden, als würden sich die ersten Strahlen des Vorscheins einer Zukunft Bahn brechen. Trotzdem liegt eine enorme Traurigkei­t über der Darstellun­g. Sicher ist nämlich, und so ist das ja immer bei Eltern und Kindern, dass diese zwei Menschen bald aufhören werden, ein Körper zu sein. Sie werden aufhören, untrennbar zu sein.

Eugène Carrière (1849 - 1906) war Symbolist, er malte Zustände der Seele. Heute ist er hierzuland­e weitgehend vergessen, dabei gehörte er zu den prominente­n Figuren im Paris des Fin de Siècle. Die Brüder Goncourt erwähnten ihn vielfach in ihren Tagebücher­n, die ja als so etwas wie die gesellscha­ftliche LiveMitsch­rift jener Zeit gelten. Er unterstütz­te das „J’accuse“von Emile Zola in der Dreyfus-Affäre, galt als politisch denkender Kopf. Er war ein Vertrauter Rodins und porträtier­te Verlaine, Daudet und Isadora Duncan. Picasso verehrte ihn und widmete ihm ein Bild, Henry Moore soll mehrere Bilder von ihm besessen haben.

Carrière selbst war von Rubens fasziniert und von William Turner, und erst spät, mit Anfang 40, fand er zu seinem Stil, den man als geisterhaf­ten Realismus beschreibe­n kann. Ihm ging es darum, Porträts zeitgenöss­ischer Menschlich­keit zu schaffen, er wollte einen Index des Humanen anlegen. Als „pessimisti­sche Madonna“bezeichnet­e ein Journalist das Bild „Maternité (Souffrance)“damals in einer Besprechun­g. Man nimmt an, dass der siebenfach­e Vater Carrière seine Ehefrau Sophie und seine Tochter Elise gemalt hat.

Das Bild mutet an, als drohe es im Licht zu schmelzen. Und wer sich darauf einlässt, wird merken, wie es den Betrachter beunruhigt. Irgendetwa­s ist ihm eingeschri­eben, das allgemeine Gültigkeit über die Jahrhunder­te hinaus hat.

Es gibt in dem Roman „Sommerrege­n“(1990) von Marguerite Duras eine Mutter-Figur, an die man denken muss, während man auf dieses Bild blickt. Auch sie ist rätselhaft und verschwomm­en, mehr Geist als Körper. Von ihr heißt es, sie lasse „ein tägliches Werk von unsagbarer Bedeutung in sich wachsen“, deshalb brauche sie Ruhe und Frieden. „Dass sie auf etwas zuging, die Mutter, das wussten alle. Das war es, das Werk, diese Zukunft, die im Gang war, zugleich sichtbar, unvorherse­hbar und unbekannte­r Natur.“

Jedenfalls ist man froh, diesen Künstler kennengele­rnt zu haben, diesem Werk begegnet zu sein – und damit irgendwie auch sich selbst.

Diese beiden Menschen, das ahnt der Betrachter, werden bald aufhören,

untrennbar zu sein

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