Rheinische Post Mettmann

Kaffeefahr­t nach Tschernoby­l

- VON DANIEL SCHRADER

Mehr als 30 Jahre nach dem Reaktorung­lück in der Ukraine ist die Sperrzone zum skurrilen Ausflugszi­el geworden.

TSCHERNOBY­L Enthusiast­isch hält Fremdenfüh­rerin Tatjana vor der Abreise in Kiew ihren Geigerzähl­er in die Luft. „0,16 Mikrosieve­rt. Alles im grünen Bereich“, ruft sie den Touristen entgegen. Eine Szene, die sich im Laufe des Tages häufig wiederhole­n wird. Immer wieder wirft Tatjana mit Strahlungs­werten um sich, die weder die Mitreisend­en und vielleicht noch nicht einmal sie selbst so richtig einordnen können. Der Grund dafür liegt im außergewöh­nlichen Reiseziel der Gruppe: der Reaktor von Tschernoby­l.

Am 26. April 1986 ereignete sich hier ein Unglück, das Tausende Menschenle­ben kostete und große Gebiete in der Ukraine und Weißrussla­nd bis heute unbewohnba­r machte. Gut 30 Jahre später ist der Ort zum Ziel abenteuerl­ustiger Touristen geworden. Etliche Agenturen bieten von Kiew aus ein- bis zweitägige Touren durch das Sperrgebie­t rund um den zerstörten Reaktor an.

Eine dieser Reisetoure­n wird von der Ukrainerin Tatjana geleitet. Mit ihren großen Stiefeln und einem Bandana in Tarnfarbe auf dem Kopf wirkt sie wie eine Guerillakä­mpferin. Auf ihrem T-Shirt prangt dagegen „Hard Rock Café Chernobyl“, wie man es sonst nur als Souvenir von Städtetrip­s nach Rom oder London kennt. Ihre Reisegrupp­e ist bunt gemischt. Während etwa der Engländer Robert darauf brennt, den Reaktor zu sehen, sind andere Teilnehmer wie die Italieneri­n Giulia eher am menschlich­en Schicksal der Katastroph­enopfer interessie­rt.

Deren Schicksal ist bei der Besichtigu­ng der verlassene­n Dörfer in der Sperrzone rund um das verwüstete Kraftwerk allgegenwä­rtig. So finden Giulia und die übrigen Teilnehmer in den Räumen eines ehemaligen Kindergart­ens noch einige Puppen und Kinderbüch­er. Auch der Halt auf einer zunächst unscheinba­r wirkenden schmalen Brücke in Nähe des Reaktors, der sogenannte­n „Brücke des Todes“, beeindruck­t die Touristen. Viele Bewohner hörten damals den lauten Knall des Explosion und liefen auf diese Brücke, um eine bessere Sicht auf die Geschehnis­se im Reaktor zu haben. Eine Neugier, die laut Tatjana viele mit dem Leben bezahlten, da sie dort stärker von der freigesetz­ten Strahlung kontaminie­rt worden seien. „Eine schrecklic­he Vorstellun­g“, sagt Giulia.

Wie viele Menschen infolge des Unglücks starben, lässt sich bis heute nicht genau beziffern. Denn viele Opfer starben nicht sofort, sondern erst Jahre nach der Katastroph­e an den Spätfolgen der Strahlung. Ge- wiss ist dagegen die Tatsache, dass die Zahl der Opfer geringer ausgefalle­n wäre, wenn die sowjetisch­e Führung schneller gehandelt hätte. Tschernoby­l ist deshalb auch ein Schauplatz politische­n Versagens. Erst 30 Stunden nach dem Unglück begann die Regierung mit Evakuierun­gsmaßnahme­n in den betroffene­n Städten. Zunächst noch in dem Glauben, die Bewohner könnten später wieder in die kontaminie­rten Gebiete zurückkehr­en.

Das lag aber auch daran, dass das Gebiet um Tschernoby­l für die Sowjetunio­n von großer strategisc­her Bedeutung war. Unweit des Reaktors befand sich unter dem Namen Tschernoby­l-2 eine geheime Siedlung. Auf offizielle­n Karten wurde sie als Ferienlage­r für Kinder ausgegeben. In Wirklichke­it befand sich dort die mehr als 100 Meter hohe und breite Radaranlag­e Duga-1. Sie diente den Sowjets, um einen möglichen Nuklearang­riff der USA rechtzeiti­g erkennen zu können.

Zwischen all diesen Eindrücken zeigt die Tour jedoch immer wieder ihre absurden Züge. Nach jedem Halt müssen die Teilnehmer auf dem Weg zurück in den Bus ihre Schuhe ausklopfen, um keinen radioaktiv­en Staub in den Innenraum zu tragen. Und überall lauern zutraulich­e Straßenhun­de, die sich in Gewöhnung an den Tourismus ausschließ­lich von Kartoffelc­hips und anderem Proviant der Besucher zu ernähren scheinen. Der Höhepunkt in dieser Hinsicht ist jedoch der Besuch in der Stadt Tschernoby­l.

Zur Überraschu­ng vieler Touristen ist diese wieder bewohnt, da die Strahlenbe­lastung in der Atmosphäre vor Ort mittlerwei­le wieder relativ gering ist. Die Bewohner sind größtentei­ls Arbeiter, die unter anderem die Hauptstraß­e zum Reaktor instandhal­ten, damit dieser in Notfällen schnell erreicht werden kann. Aber auch der Fremdenver­kehr hat mittlerwei­le Arbeitsplä­tze in der Stadt geschaffen. Im Ortskern befindet sich ein kleines Hotel mit angeschlos­senem Restaurant, wo Tatjanas Reisegrupp­e ein Mittagesse­n serviert wird. Auf dem Menü stehen Schnitzel und Kartoffeln. Eine Szene, die man sich auch auf einer Wanderung durch das Allgäu oder die Eifel vorstellen könnte und nicht ausgerechn­et 15 Kilometer vom Ort der größten Reaktorkat­astrophe entfernt. Abenteuer-Tourist Robert nutzt diese Pause, um den übrigen Reisenden seine Passion für den Reaktor näherzubri­ngen: „Wusstet ihr, dass die Explosion damals sogar das 1000 Tonnen schwere Dach vom Reaktor gestoßen hat?“, fragt er begeistert in die Runde. Dementspre­chend gespannt ist er, den Ort im Anschluss an das Essen endlich besichtige­n zu dürfen.

Zu seiner Enttäuschu­ng ist der Besuch des Reaktors jedoch vergleichs­weise unspektaku­lär. Außer dem 2016 fertiggest­ellten Sarkophag, der ihn zum Schutz vor Strahlung umhüllt, ist nicht viel zu sehen. Auch Tatjanas Geigerzähl­er vermeldet nur geringe Strahlungs­werte. Anders sieht es dagegen in der Stadt Prypjat aus. Mit einer Entfernung von nur vier Kilometern zum Unglücksor­t wurde sie zum Zentrum der Katastroph­e. Zu ihrer Blütezeit hatte Prypjat einen für sowjetisch­e Verhältnis­se hohen Lebensstan­dard, der sich heute jedoch nur noch erahnen lässt. In der verlassene­n Stadt zeigt sich, wie Straßen und Gebäude ohne ihre Bewohner langsam verfallen. Fassaden bröckeln, Fenstersch­eiben sind zerstört. Stück für Stück holt sich die Natur ehemalige Straßen und Plätze zurück. Wegen Einsturzge­fahr ist ein Betreten der Gebäude streng verboten. Tatjana lässt sich davon jedoch nicht aufhalten. „Passt auf, dass uns die Sicherheit­skräfte nicht erwischen“, sagt sie, während sie über einen Haufen von Trümmern klettert.

Was in Prypjat auffällt, ist diese Stille. Nur Vögel zwitschern, der Wind weht leicht durch die Äste der Bäume. „Prypjat wirkt unglaublic­h friedlich“, stellt Giulia erstaunt fest. Ein Frieden, der jedoch nur von kurzer Dauer ist. Denn zusammen mit Robert und einigen anderen Teilnehmer­n schlendert Tatjana mit ihrem Geigerzähl­er durch die verlassene­n Straßen. Zur Freude von Robert schlägt das Gerät endlich kräftig aus. „Zehn Mikrosieve­rt, 20 Mikrosieve­rt!“, ruft Tatjana in zunehmende­r Erregung immer höhere Werte, während Robert und die übrigen Touristen ihr dicht auf den Fersen bleiben. „Wow, das ist krass“, stellt Robert mit weit geöffnetem Mund fest.

Am Ende der Tour wartet auf die Gruppe noch ein besonderer Halt: die Strahlenko­ntrolle, die jeder Teilnehmer passieren muss. Sollte ein Kleidungss­tück durch radioaktiv­en Staub kontaminie­rt worden sein, muss es mit einer Bürste gereinigt werden. Hilft auch das nicht, muss es ausgezogen und zurückgela­ssen werden. „Eine Frau musste einmal ohne Hose nach Hause“, erzählt Tatjana lachend. Als sie daraufhin beunruhigt­e Blicke aus ihrer Gruppe erntet, versucht sie schnell zu beruhigen: „Das war aber nur eine Ausnahme.“Doch die Teilnehmer haben Glück und dürfen ihre Hosen und Mäntel behalten.

Auf dem Rückweg nach Kiew zeigt Tatjana im Bus noch ein kurzes Video. Es zeigt Aufnahmen aus Prypjat aus der Zeit vor dem Unglück. Zu sehen sind spielende Kinder und feiernde Menschen. Alle vor den Gebäuden, deren verlassene Ruinen die Gruppe eben gerade erst besichtigt hat. Und plötzlich bekommt die Katastroph­e ein Gesicht. Ein Moment, in dem selbst passionier­te Katastroph­entouriste­n wie Robert kurz innehalten. Für alle im Bus ist zu spüren, was zuvor irgendwie abstrakt geblieben war: all das menschlich­e Leid, das das Reaktorung­lück verursacht hat.

 ?? FOTO: AFP ?? Eine Besucherin trinkt Kaffee vor einem Souvenir-Shop am Zugang zur Sperrzone rund um das zerstörte Atomkraftw­erk.
FOTO: AFP Eine Besucherin trinkt Kaffee vor einem Souvenir-Shop am Zugang zur Sperrzone rund um das zerstörte Atomkraftw­erk.

Newspapers in German

Newspapers from Germany