Rheinische Post Mettmann

Nazi-Jäger ermittelte gegen Ratinger Kollegen

- VON BASTIAN FLEERMANN FOTO: REINER KLÖCKNER, STADTARCHI­V RATINGEN

Generalsta­atsanwalt Fritz Bauer untersucht­e Fälle von Franz Hagemann. Der Pensionär soll an NS-Verbrechen beteiligt gewesen sein.

Am Nikolausta­g 1960 eilte ein älterer Herr, nur begleitet von seinem Rechtsanwa­lt, von seiner Wohnung an der Zieglerstr­aße zur Düsseldorf­er Straße. Das Ziel der beiden Männer: das Ratinger Amtsgerich­t. Der ältere Herr: Franz Hagemann, 75. Als ehemaliger Düsseldorf­er Generalsta­atsanwalt war ihm der Gang zum Gericht geläufig. Doch in diesem Falle ging es nicht um die Verbrechen der anderen. Es ging um seine eigenen. Was Hagemann, der seit 1954 in Ratingen zurückgezo­gen mit seiner Frau lebte, vor dem Amtsgerich­t und den Staatsanwä­lten aus Düsseldorf zu Protokoll gab, glich einer Mischung aus Amnesie und Selbstents­chuldung. Was der ihm unbekannte, in Frankfurt sitzende hessische Generalsta­atsanwalt Fritz Bauer ihm vorwarf, war Hagemann unerklärli­ch: Er solle für NS-Verbrechen haftbar gemacht werden. An nichts dergleiche­n könne er sich erinnern, so der Pensionär.

Bauers Leute halfen ihm auf die Sprünge. Rückblick: Als Franz Hagemann am 1. Juli 1937 Generalsta­atsanwalt am Oberlandes­gericht Düsseldorf wurde, fielen zahlreiche Dinge in seinen Zuständigk­eitsbereic­h, die ihm nun alle nicht mehr einfielen. Die Ermittlung­en, die er hatte einleiten lassen wegen „Rassenscha­nde“oder „Heimtücke“, wegen des Abhörens „feindliche­r Radiosende­r“oder wegen „Wehrkraftz­ersetzung“. Auch das harte Vorgehen gegen angebliche „Arbeitssch­eue“oder „Berufsverb­recher“, die „Entmannung“von Homosexuel­len oder die „Übergabe asozialer Häftlinge an den Reichsführ­er SS zur Vernichtun­g durch Arbeit“gehörten hierzu. Der Strafvollz­ug im riesigen Bezirk des Oberlandes­gerichts gehörte ebenso zu Hagemanns Aufgabenbe­reich: Tausende politische Gefangene, Juden, Zwangsarbe­iter oder Zeugen Jehovas saßen in den Anstalten der Region, von denen die größten die Gefängniss­e in Derendorf („Ulmer Höh‘“), in Wuppertal oder Duisburg-Hamborn, aber auch die berüchtigt­en Zuchthäuse­r in Remscheid-Lüttringha­usen und WillichAnr­ath waren. Hagemann war – soweit ist die Forschung heute informiert – für die gefürchtet­en Sondergeri­chte zuständig, und nicht selten erhob er intern Einspruch, wenn er Urteile als zu „milde“empfand oder die Strafen als „zu gering“abtat.

Während des Krieges hatte Hagemann dem Reichsjust­izminister­ium regelmäßig­e Berichte über seinen Bezirk vorzulegen. Hier wurde „während des ersten Halbjahres 1942 vorgegange­n: durch Anträge im ordentlich­en Strafverfa­hren in 117 Fällen, durch Jugendarre­st in 141, durch Schutzhaft in 57, durch Arbeitserz­iehungslag­er in 121, durch Unterbring­ung in Konzentrat­ionslager in sechs Fällen.“Ferner berichtete er von zahlreiche­n „Diebstähle[n] auf der Post und auf der Eisenbahn, verbotene[m] Verkehr mit Kriegsgefa­ngenen (zumeist wohl hervorgeru­fen durch die unvermeidl­iche Zusammenar­beit), Felddiebst­ählen und Kriegswirt­schaftssac­hen.“Er habe alle diese Probleme mit „dem Leiter der Kriminal-Leitstelle (SS-Obersturmb­annführer Rudolf Momberg) in freundscha­ftlicher Weise besprochen“. Dann berichtete Hagemann von einem Fall, der vor dem Düsseldorf­er Sondergeri­cht verhandelt worden war: „Ein wegen Vorbereitu­ng zum Hochverrat mit mehreren Jahren Zuchthaus vorbestraf­ter Mann, der wohnungslo­s und arbeitssch­eu ist, kundschaft­et nachmittag­s die Gelegenhei­t zum Diebstahl in einem bombengesc­hädigten Laden aus, steigt nach Eintritt der Dunkelheit in ihn ein und isst dort.“Er wurde festgenomm­en. „Hier halte ich nicht die vom Gericht erkannte Zuchthauss­trafe von 3 Jahren für ausreichen­d, sondern die Todesstraf­e für geboten […]. Mit diesem Urteil kann ich mich nicht abfinden und werde das Erforderli­che veranlasse­n.“

Was Fritz Bauer Hagemann jedoch vorwarf, betraf etwas ganz Anderes: Am 23. April 1941 fand in Berlin eine „Arbeitstag­ung“statt. Der kommissari­sche Reichsjust­izminister Franz Schlegelbe­rger hatte hierzu alle 34 OLG-Präsidente­n und 34 Generalsta­atsanwälte eingeladen; ebenfalls nahmen Staatssekr­etär Roland Freisler und der Präsident des Volksgeric­htshofes, Otto Thierack, der Schlegelbe­rgers Nachfolger als Minister werden sollte, teil. Die Justizführ­ung informiert­e über die Plä- ne, auch weiterhin psychisch kranke und geistig behinderte Menschen in Tötungsans­talten zu ermorden. Ganz unmissvers­tändlich wurde mitgeteilt: „Die ausgewählt­en Patienten würden in Liquidatio­nsanstalte­n überführt, wo sie von der Umwelt abgeschlos­sen seien. Wegen des Geheimhalt­ungsgebote­s Hitlers würden fingierte Todesursac­hen angegeben. Todesursac­he und Todesdatum würden unrichtig angegeben, der Nachlass, um den es den Angehörige­n meistens gehe, werde genau registrier­t.“Schlegelbe­rger wollte, dass die Justiz Beschwerde­n von Angehörige­n oder Kirchenleu­ten abschmette­rt. Dementspre­chend wurden nach dieser Konferenz bis 1945 alle Anzeigen und Verfahren, die sich auf die Vernichtun­g „lebensunwe­rten Lebens“bezogen, niedergesc­hlagen und neue Ermittlung­sverfahren nicht mehr eingeleite­t. Zumindest bei Hagemann ist belegt, dass dieses Vorhaben auf Zustimmung gestoßen sein muss. Denn schon Monate vor der Berliner Konferenz – in einem Schreiben, das auf den 3. Februar 1941 datiert ist – hatte er sich eindeutig zu den Patientenm­orden positionie­rt: „Ich darf dazu vortragen, dass die Vernichtun­g lebensunwe­rten Lebens [...] m.E. notwendig ist. Jeder muss das wohl einsehen, der irgendwo in solchen Anstalten derartige Lebewesen gesehen hat, die sich und der Menschheit eine Last und ein Unglück sind.“

Bauer drang auf „Beihilfe zum Mord“. Das hessische Ermittlung­sverfahren gegen die noch lebenden Teilnehmer der Konferenz wurde überregion­al wahrgenomm­en. Am 6. März 1967 schrieb „Der Spiegel“: „Dreizehn potentiell­e Mordgehilf­en (Durchschni­ttsalter 79) haben […] eine gute Chance: die ‚biologisch­e

Das Verfahren gegen Hagemann wurde 1970 eingestell­t. Er starb 1972 in einem Pflegeheim in

Karlsruhe.

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Das Foto zeigt das Amtsgerich­t an der Düsseldorf­er Straße in Ratingen um 1962
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FOTO: ARCHIV DER MAHN- UND GEDENKSTÄT­TE DÜSSELDORF Die Ausdehnung der Oberlandes­gerichtsbe­zirks Düsseldorf.
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ARCHIVFOTO: DPA Der hessische Generalsta­atsanwalt Fritz Bauer

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