Rheinische Post Mettmann

Solingen traf auch die Türkei

- VON FRANK NORDHAUSEN

Der Brandansch­lag vor 25 Jahren hat die Wahrnehmun­g Deutschlan­ds verändert – bis heute.

ISTANBUL Der grauenhaft­e Brandansch­lag von Solingen vom 29. Mai 1993 auf das Haus der türkischen Familie Genç mit fünf Toten war nicht nur eine Zäsur für das Verhältnis von Einheimisc­hen und Migranten in Deutschlan­d, sondern auch zwischen der Türkei und der Bundesrepu­blik. Der Ortsname Solingen hat sich eingebrann­t in das kollektive Gedächtnis der Türken wie jener von Mölln, wo sechs Monate zuvor eine andere türkische Familie drei Mitglieder durch einen Mordanschl­ag verlor.

Plötzlich mischte sich in das Bild der Bundesrepu­blik als Freund und Arbeitgebe­r das eines Dunkeldeut­schlands, in dem fanatische­r Ausländerh­ass wütete. Türkische Politiker reagierten mit Aufrufen an die Deutschtür­ken, ruhig zu bleiben. Doch forderten Regierung und Opposition in Ankara zugleich eine „Lebensgara­ntie“für Türken und den Schutz ihres Eigentums in Deutschlan­d. Dass auch die deutsche Bevölkerun­g bestürzt reagierte, viele Menschen Lichterket­ten bildeten und gegen Ausländerh­ass demonstrie­rten, wurde mit Erleichter­ung registrier­t.

Der Journalist und Buchautor Baha Güngör aus Bonn, damals dpa-Korrespond­ent in Ankara, hat die Beisetzung der ermordeten Angehörige­n der Familie Genç in ihrem Heimatdorf Mercimek in Nordanatol­ien miterlebt. „Es war eine ganz große Sache“, erinnert er sich. „Der türkische Staatspräs­ident Demirel und Regierungs­chef Inönü nahmen daran teil, aus Deutsch- land kam Außenminis­ter Klaus Kinkel, leider nicht Bundeskanz­ler Kohl.“Helmut Kohl hatte seine Teilnahme mit den Worten verweigert, man wolle nicht in „Beileidsto­urismus“verfallen.

„Die Ereignisse von Solingen und Mölln haben eine bedrückte Stimmung erzeugt“, sagt Güngör. Aber viele Menschen hätten auf seine Frage nach ihrem Bild von den Deutschen geantworte­t: „Es gibt überall böse Menschen.“Auch die Regierung in Ankara machte die Deutschen nicht pauschal verantwort­lich, warnte aber vor einem Rückfall in die Nazizeit. Damals hätten sich die Türken vor allem Sorgen über die Auswirkung­en der Ereignisse auf den Tourismus gemacht, sagt Güngör. „Sie befürchtet­en, dass viele Deutsche aus Angst vor Racheakten nicht mehr in die Türkei reisen würden.“

Diese Sorge war unbegründe­t. Zu einer Ikone der Völkervers­tändigung wurde die überlebend­e Großmutter Mevlüde Genç, die zwei Töchter, zwei Enkeltöcht­er und eine Nichte bei dem Anschlag verloren hatte. Denn sie wurde nicht müde, in zahlreiche­n Interviews immer wieder zu betonen: „Lasst uns Freunde sein. Lasst uns in Frieden zusammenle­ben und die Zukunft gestalten, damit so etwas nie wieder geschieht.“

Es gab aber auch andere Töne. Die rechtsnati­onalistisc­he türkische Politikeri­n Meral Aksener, die jetzt bei der türkischen Präsidents­chaftswahl antritt, sagte damals: „Die Deutschen haben uns als Arbeitskrä­fte geholt, nachdem sie uns bis auf die Zähne untersucht haben. Da wir uns jetzt ,in Deutschlan­d festgekral­lt‘ haben und sie uns nicht einfach ‚aus ihrem Land werfen‘ können, verbrennen sie uns.“Baha Güngör erinnert daran, dass sich viele Türken in Deutschlan­d schon zu jener Zeit unerwünsch­t fühlten. „Man war immer beunruhigt, wenn Ereignisse wie jene in Solingen passierten. Man sagte, anders als die Juden im Dritten Reich haben wir zum Glück eine Heimat.“

Bis heute erinnern türkische Medien bei jedem Wohnungsbr­and, jeder Gewalttat gegen Deutschtür­ken an Solingen und Mölln. Vorwürfe des „institutio­nellen Rassismus“, der Fremdenfei­ndlichkeit und der Islamophob­ie gehören zum festen Wortschatz in der Berichters­tattung über den Münchner Prozess gegen die rechtsradi­kale Mörderband­e NSU. Dass die türkische Regierung die im Ausland lebenden Landsleute zu Recht als Schutzbefo­hlene ansieht, ist ebenso Konsens in der türkischen Bevölkerun­g wie die Überzeugun­g, dass es für den Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu möglich sein muss, am Gedenktag in Solingen eine Rede zu halten.

Momentan sind die türkischen Medien so mit dem Wahlkampf beschäftig­t, dass sie dem SolingenJa­hrestag noch keine große Aufmerksam­keit widmen. In der englischsp­rachigen Tageszeitu­ng „Hürriyet Daily News“analysiert­e der Politologe Teoman Ertugrul Tulun vom Zentrum für Eurasische Studien in Ankara kürzlich die Auswirkung­en des Anschlags auf die Türkei und Deutschlan­d: „Zum 25. Jahrestag der Tragödie von Solingen müssen wir die Frage stellen: Was hat sich in Westeuropa seither geändert? In Österreich ist eine weit rechts stehende Partei, die 25 Prozent der Stimmen gewonnen hat, Teil einer Koalitions­regierung. In Deutschlan­d hat erstmals seit Jahrzehnte­n eine rechtsextr­eme Partei bei allgemeine­n Wahlen den Sprung ins Parlament mit fast 13 Prozent der Stimmen geschafft.“

Tulun zitiert den britischen Historiker Eric Hobsbawm, der schon 1991 die Befürchtun­g geäußert habe, dass Fremdenfei­ndlichkeit zur Massenideo­logie in Westeuropa werde. Er resümiert: „Leider ist die hässliche Vergangenh­eit Europas zu seiner Gegenwart geworden.“

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FOTO: DPA 4. Juni 1993: Die Opfer des Anschlags werden in ihrem türkischen Heimatdorf Mercimek beerdigt. Auch dabei war Bundesauße­nminister Klaus Kinkel (2.v.l.).

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