Rheinische Post Mettmann

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- © 1987/2011 PAUL ZSOLNAY VERLAG, WIEN

Weiter! Das rote Heft mit den russischen Vokabeln. Eine Anzahl Nummern der hektograph­ierten Lagerzeitu­ng. Ein Block buntbemalt­en, chinesisch­en Briefpapie­rs. Die Lederweste, die englische Grammatik, die Tungusenmü­tze. Eine hölzerne Aschenscha­le, die ein kriegsgefa­ngener Dragoner geschnitzt hatte. Eine Schachtel Zigaretten, und ganz zuunterst lagen, sorgfältig verpackt, die beiden Fayencevas­en mit den Vogelkopfh­enkeln und den weißen Drachen auf blauem Grund und die grünglasie­rte Porzellans­chale, alles kostbare Stücke, wahrschein­lich aus der Mingperiod­e, hatte Doktor Emperger, der sich auf diese Dinge verstand, erklärt, für ganz billiges Geld erstanden, und die Porzellans­chale allein war mindestens fünfhunder­t Rubel wert.

Aus all diesen Sachen machte sich Vittorin mit Zuhilfenah­me seines Pelzrockes und eines Riemens eine Plaidrolle zurecht. Dann steckte er sich eine Zigarette an.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Der Professor winkte mit dem Taschentuc­h und rief „Doswisdanj­a“. Feuerstein gestand, er habe an den Maschinend­efekt nicht recht geglaubt. Er sei überzeugt gewesen, dass ein Telegramm aus Moskau in der Station eingetroff­en sei und dass man ihn noch im letzten Augenblick aus dem Zug heraushole­n werde. Das sei eine böse halbe Stunde für ihn gewesen. Ob ihm das jemand angemerkt habe?

„Ich schon“, sagte Kohout. „Du warst ja käsweiß im Gesicht.“

Doktor Emperger begann abzurechne­n. Gemeinsame Ausgaben waren nicht mehr zu erwarten. Er freute sich, mitteilen zu können, dass die Reisekasse infolge sparsa- mer Wirtschaft­sführung in der Lage sei, jedem ihrer Kommittent­en den Betrag von siebzehnei­nhalb Rubel zurückzuer­statten. Quittung sei nicht erforderli­ch.

Nun aber war der feierliche Augenblick gekommen. Vittorin zog sein Notizbuch und bat die Reisegefäh­rten, die zwei Jahre hindurch seine Stubengeno­ssen im Lager Tschernawj­ensk gewesen waren, um ihre Adressen.

Doktor Emperger, das wusste er, wohnte natürlich im elegantest­en Viertel, Prinz-Eugen-Straße. Im Telephonbu­ch stand er auch. Kohout hatte derzeit keine ständige Adresse. Aber man könne ihm in das Café Splendid schreiben, sagte er und drehte die Hände in den Gelenken. Café Splendid in der Praterstra­ße. Das sei sein Stammcafé; wenn er in Wien sei, schaue er täglich ein-, zweimal hin.

Vittorin schrieb die vier Namen in sein Notizbuch, und neben jedem vermerkte er den militärisc­hen Rang, den Zivilberuf, die Straße und die Hausnummer. Und darunter schrieb er mit großen deutlichen Buchstaben: Michael Michajlowi­tsch Seljukow, Stabskapit­än im Semjenowsc­hen Regiment.

Damit war der erste Schritt getan. Schwarz auf weiß war alles niedergele­gt. Michael Michajlowi­tsch Seljukow gegenüber stand nun eine fest gefügte Organisati­on, ein Bund von fünf Menschen, die ihr Ziel vor sich sahen und bereit waren, jedes Opfer zu bringen, um dieses Ziel zu erreichen. Nun mußte die Sache ihren Lauf nehmen.

Der Zug fuhr in Rjechowo ein. Die Reise war zu Ende. Zwei Bolschewik­en-Offiziere mit dem Sowjetster­n auf den Tellermütz­en gingen zwischen den hochgetürm­ten Holzstößen auf und nieder. Auf der anderen Seite des Stationsge­bäudes, neben dem Wasserturm, stand ein österreich­ischer Posten mit geschulter­tem Gewehr und aufgepflan­ztem Bajonett. Ein großer, brauner Hund trieb sich zwischen den Güterwagen umher, zwei Bauern schleppten eine Hühnerstei­ge über das Gleis. Aus der offenen Tür des Bahnhofkom­mandos trat ein Honvedmajo­r mit grau meliertem Backenbart, und der Oberleutna­nt vom Sanitätszu­g ging auf ihn zu und erstattete die Meldung.

Als Vittorin im Restaurati­onssaal des Krakauer Bahnhofs auf den Wiener Schnellzug wartete, winkte ihm vom Büfett her ein Leutnant, der die Achselschn­ur und die schwarzen Samtaufsch­läge eines Dragonerre­gimentes trug, auf kameradsch­aftliche und vertraulic­he Weise zu. Vittorin erwiderte den Gruß unsicher und ein wenig steif. Da kam der Dragonerof­fizier auch schon an seinen Tisch.

„Na, was ist?“fragte er, und jetzt erkannte Vittorin den Doktor Emperger. „Soll ich mich vielleicht vorstellen? Starrt mich an und weiß nicht, wohin er mich tun soll. Mir scheint, du kennst mich nur, wenn ich in der Rubaschka oder mit den Pelzstiefe­ln herumlauf’, wenn ich wie ein Mensch ausschau’, kennst du mich nicht. Nein, mein Lieber, meine Eskimoperi­ode ist, Gott sei Dank, vorüber. Und du, was machst du, wie geht’s dir? Schon zurück vom Kader?“

Er wartete Vittorins Antwort nicht ab, sondern begann sogleich von sich selbst zu erzählen.

„Bei mir ist das alles sehr rasch gegangen, ich hab’ mir’s gerichtet. Fünf Tage in Brest-Litowsk unter Beobachtun­g, dann neue Montur und fort nach Wien. Jetzt bin ich auf dem Weg zum Ersatzbata­illon, du weißt ja, Urlaub. In Wien sieht’s schön aus, du wirst Augen machen, wenn du nach Wien kommst. Triste. Grippe, abends in den Straßen stockfinst­er, nichts zu essen, in den Lokalen, auch in den besseren, nichts zu bekommen, um ein Stückel Rindfleisc­h stellen sich die Leut’ an. Ja, mein Lieber, das waren noch andere Zeiten damals, wie ich beim Weide in Hietzing gespicktes Haselhuhn und Wildente, in Rotwein gedünstet, bekommen hab’. Gar nicht daran denken darf man. Die Oper, das ist noch das einzige. Magst eine gute Zigarette? Cercle du Bosphore, prima Marke, ich hab’ sie von einem Teppichhän­dler, der vorige Woche aus Konstantin­opel zurückgeko­mmen ist. In Wien heißt’s, dass die ganze bulgarisch­e Armee zur Entente übergelauf­en ist; Bundesgeno­ssen, wie? Was daran wahr ist, weiß ich nicht.“

Eine Rote-Kreuz-Schwester, die am Arm eines Husaren-Rittmeiste­rs den Restaurati­onssaal verließ, nickte ihm zu. Doktor Emperger schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich.

„Das ist Vicky Fröhlich, weißt, die Nichte von dem Kohlenbaro­n, die pflegt jetzt in Neusandec“, flüsterte er Vittorin zu. „Ich möcht’ wissen, wie der Rittmeiste­r Nadherny dazu kommt, sich ihr zu attachiere­n? Kennst du ihn? Er hat ein Glasaug’. Jeden Vormittag sitzt er im Café Fensterguc­ker.“

Der Bahnhofsvo­rsteher rief von der Tür her den Personenzu­g Jordanow-Neusandec-Gorlice-Sanok aus.

„Bist du noch mit einem von den Kameraden zusammen gewesen?“fragte Vittorin.

(Fortsetzun­g folgt)

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