Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Weiter! Das rote Heft mit den russischen Vokabeln. Eine Anzahl Nummern der hektographierten Lagerzeitung. Ein Block buntbemalten, chinesischen Briefpapiers. Die Lederweste, die englische Grammatik, die Tungusenmütze. Eine hölzerne Aschenschale, die ein kriegsgefangener Dragoner geschnitzt hatte. Eine Schachtel Zigaretten, und ganz zuunterst lagen, sorgfältig verpackt, die beiden Fayencevasen mit den Vogelkopfhenkeln und den weißen Drachen auf blauem Grund und die grünglasierte Porzellanschale, alles kostbare Stücke, wahrscheinlich aus der Mingperiode, hatte Doktor Emperger, der sich auf diese Dinge verstand, erklärt, für ganz billiges Geld erstanden, und die Porzellanschale allein war mindestens fünfhundert Rubel wert.
Aus all diesen Sachen machte sich Vittorin mit Zuhilfenahme seines Pelzrockes und eines Riemens eine Plaidrolle zurecht. Dann steckte er sich eine Zigarette an.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Der Professor winkte mit dem Taschentuch und rief „Doswisdanja“. Feuerstein gestand, er habe an den Maschinendefekt nicht recht geglaubt. Er sei überzeugt gewesen, dass ein Telegramm aus Moskau in der Station eingetroffen sei und dass man ihn noch im letzten Augenblick aus dem Zug herausholen werde. Das sei eine böse halbe Stunde für ihn gewesen. Ob ihm das jemand angemerkt habe?
„Ich schon“, sagte Kohout. „Du warst ja käsweiß im Gesicht.“
Doktor Emperger begann abzurechnen. Gemeinsame Ausgaben waren nicht mehr zu erwarten. Er freute sich, mitteilen zu können, dass die Reisekasse infolge sparsa- mer Wirtschaftsführung in der Lage sei, jedem ihrer Kommittenten den Betrag von siebzehneinhalb Rubel zurückzuerstatten. Quittung sei nicht erforderlich.
Nun aber war der feierliche Augenblick gekommen. Vittorin zog sein Notizbuch und bat die Reisegefährten, die zwei Jahre hindurch seine Stubengenossen im Lager Tschernawjensk gewesen waren, um ihre Adressen.
Doktor Emperger, das wusste er, wohnte natürlich im elegantesten Viertel, Prinz-Eugen-Straße. Im Telephonbuch stand er auch. Kohout hatte derzeit keine ständige Adresse. Aber man könne ihm in das Café Splendid schreiben, sagte er und drehte die Hände in den Gelenken. Café Splendid in der Praterstraße. Das sei sein Stammcafé; wenn er in Wien sei, schaue er täglich ein-, zweimal hin.
Vittorin schrieb die vier Namen in sein Notizbuch, und neben jedem vermerkte er den militärischen Rang, den Zivilberuf, die Straße und die Hausnummer. Und darunter schrieb er mit großen deutlichen Buchstaben: Michael Michajlowitsch Seljukow, Stabskapitän im Semjenowschen Regiment.
Damit war der erste Schritt getan. Schwarz auf weiß war alles niedergelegt. Michael Michajlowitsch Seljukow gegenüber stand nun eine fest gefügte Organisation, ein Bund von fünf Menschen, die ihr Ziel vor sich sahen und bereit waren, jedes Opfer zu bringen, um dieses Ziel zu erreichen. Nun mußte die Sache ihren Lauf nehmen.
Der Zug fuhr in Rjechowo ein. Die Reise war zu Ende. Zwei Bolschewiken-Offiziere mit dem Sowjetstern auf den Tellermützen gingen zwischen den hochgetürmten Holzstößen auf und nieder. Auf der anderen Seite des Stationsgebäudes, neben dem Wasserturm, stand ein österreichischer Posten mit geschultertem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett. Ein großer, brauner Hund trieb sich zwischen den Güterwagen umher, zwei Bauern schleppten eine Hühnersteige über das Gleis. Aus der offenen Tür des Bahnhofkommandos trat ein Honvedmajor mit grau meliertem Backenbart, und der Oberleutnant vom Sanitätszug ging auf ihn zu und erstattete die Meldung.
Als Vittorin im Restaurationssaal des Krakauer Bahnhofs auf den Wiener Schnellzug wartete, winkte ihm vom Büfett her ein Leutnant, der die Achselschnur und die schwarzen Samtaufschläge eines Dragonerregimentes trug, auf kameradschaftliche und vertrauliche Weise zu. Vittorin erwiderte den Gruß unsicher und ein wenig steif. Da kam der Dragoneroffizier auch schon an seinen Tisch.
„Na, was ist?“fragte er, und jetzt erkannte Vittorin den Doktor Emperger. „Soll ich mich vielleicht vorstellen? Starrt mich an und weiß nicht, wohin er mich tun soll. Mir scheint, du kennst mich nur, wenn ich in der Rubaschka oder mit den Pelzstiefeln herumlauf’, wenn ich wie ein Mensch ausschau’, kennst du mich nicht. Nein, mein Lieber, meine Eskimoperiode ist, Gott sei Dank, vorüber. Und du, was machst du, wie geht’s dir? Schon zurück vom Kader?“
Er wartete Vittorins Antwort nicht ab, sondern begann sogleich von sich selbst zu erzählen.
„Bei mir ist das alles sehr rasch gegangen, ich hab’ mir’s gerichtet. Fünf Tage in Brest-Litowsk unter Beobachtung, dann neue Montur und fort nach Wien. Jetzt bin ich auf dem Weg zum Ersatzbataillon, du weißt ja, Urlaub. In Wien sieht’s schön aus, du wirst Augen machen, wenn du nach Wien kommst. Triste. Grippe, abends in den Straßen stockfinster, nichts zu essen, in den Lokalen, auch in den besseren, nichts zu bekommen, um ein Stückel Rindfleisch stellen sich die Leut’ an. Ja, mein Lieber, das waren noch andere Zeiten damals, wie ich beim Weide in Hietzing gespicktes Haselhuhn und Wildente, in Rotwein gedünstet, bekommen hab’. Gar nicht daran denken darf man. Die Oper, das ist noch das einzige. Magst eine gute Zigarette? Cercle du Bosphore, prima Marke, ich hab’ sie von einem Teppichhändler, der vorige Woche aus Konstantinopel zurückgekommen ist. In Wien heißt’s, dass die ganze bulgarische Armee zur Entente übergelaufen ist; Bundesgenossen, wie? Was daran wahr ist, weiß ich nicht.“
Eine Rote-Kreuz-Schwester, die am Arm eines Husaren-Rittmeisters den Restaurationssaal verließ, nickte ihm zu. Doktor Emperger schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich.
„Das ist Vicky Fröhlich, weißt, die Nichte von dem Kohlenbaron, die pflegt jetzt in Neusandec“, flüsterte er Vittorin zu. „Ich möcht’ wissen, wie der Rittmeister Nadherny dazu kommt, sich ihr zu attachieren? Kennst du ihn? Er hat ein Glasaug’. Jeden Vormittag sitzt er im Café Fenstergucker.“
Der Bahnhofsvorsteher rief von der Tür her den Personenzug Jordanow-Neusandec-Gorlice-Sanok aus.
„Bist du noch mit einem von den Kameraden zusammen gewesen?“fragte Vittorin.
(Fortsetzung folgt)