ANALYSE In
der politischen Situation Italiens geht es weniger um Fakten, sondern um ein tief verwurzeltes Gefühl. Das Selbstwertgefühl des Landes ist auf einem historischen Tiefpunkt. Will Europa zusammenhalten, muss es Italien auf Augenhöhe begegnen.
Vorhaben einer Landbrücke zwischen Sizilien und Kalabrien. In den Regionen südlich von Rom gilt jede dritte Familie als arm. Die Mafia hat ihren festen Platz in Politik und Verwaltung, hemmt die Wirtschaftskraft um 15 bis 20 Prozent. Jeder zweite junge Mensch ist arbeitslos, viele wandern ab in den Norden. Geld und Perspektive für Erasmus-Aufenthalte im übrigen Europa fehlen. Süditalien wählte die Fünf-SterneBewegung mit einem Anteil von 40 Prozent, weil sich die Partei an Umfragen orientiert, ihre Wähler angeblich ernst nimmt. Transparenz und Ehrlichkeit sind als politische Versprechen ohnehin nicht mehr glaubhaft – Fünf-Sterne und Lega haben von der moralischen Schieflage profitiert. Im Gegensatz zu den alten Parteien gelten sie in ihrer Emotionalität als authentisch. Wenige Woche vor der Wahl wurde bekannt, dass die Fünf-Sterne-Partei Spendenquittungen an einen Fonds für Kleinunternehmer gefälscht hat. Ihrem Ansehen schadete das nicht.
Italien hatte seit Ende des Zweiten Weltkriegs 66 Regierungen. Die Italiener sind es leid, sich seit Jahren international für ihre Politik schämen zu müssen. Ihre Wahl einer „Regierung des Wandels“ist vor allem ein Protest gegen politische Entscheidungen „von oben herab“.
„Von oben herab“sind für das Volk die Technokraten und Übergangsregierungen, auch die Ministerpräsidenten der letzten Jahre, von denen viele sagen, das Volk habe sie nicht selbst gewählt. In der Tat haben die Parteien ihre Spitzenkandidaturen nach den Wahlen oft ausgetauscht, das Amt wurde durch parteiinterne Entscheidungen neu besetzt. Für die Italiener gilt: Auch wenn neue Namen die Bühne betreten, bleiben die gleichen Protagonisten erhalten und schaufeln in die eigene Tasche. Berlusconi ist so ein Phänomen.
„Von oben herab“ist auch die Haltung, mit der Deutschland Italien begegnet. Die Sparpolitik aus Brüssel maßregelt das Land, Fünf-Sterne und Lega machen sie für das geringe Wirtschaftswachstum verantwortlich. Süditalien wird von der EU mit tausenden Flüchtlingen allein gelassen. Viele Italiener identifizieren die EU mit Deutschland. Das ItalienBashing gießt Öl ins Feuer. Der Rechtspopulismus wird Europa nicht retten. Eine Begegnung auf Augenhöhe mit Italien vielleicht schon.