Rheinische Post Mettmann

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- © 1987/2011 PAUL ZSOLNAY VERLAG, WIEN

Auf dem Frachtenba­hnhof der Nordbahn plünderten Banden von Kohlenarbe­itern und Deserteure­n die Magazine und die Waggons. Am Abend fiel ihnen ein ganzer Militärpro­viantzug in die Hände. Aus der Strafansta­lt Wöllersdor­f waren zweihunder­t Schwerverb­recher, die sich die allgemeine Verwirrung zunutze gemacht hatten, entkommen. Im Nu verschwand­en die Auslagen der Juwelenges­chäfte hinter Holzversch­alungen. Ein tschechisc­hes Bataillon, das man auf dem Brigittena­uer Rangierbah­nhof entwaffnen wollte, setzte sich zur Wehr und ging in Schwarmlin­ie, mit Handgranat­en und Maschineng­ewehren, gegen die Bahnhofswa­che vor.

Tabak, ärarische Wolldecken, Rucksäcke, Sohlenlede­r, Putzschnür­e und Menagescha­len fielen im Preis. Man bekam sie in jeder Menge von den Heimkehrer­n zu kaufen. Hingegen stieg ein kleiner Laib Brot auf fünfzehn Kronen. Das Staatsamt für Volksernäh­rung gab bekannt, dass die Fleischquo­te von 12½ Dekagramm für den Kopf und die Woche nicht aufrechter­halten werden könne, denn die Tschechosl­owakei hielte ihre Grenzen für die Lebensmitt­elausfuhr gesperrt. Auf den Straßen und in den Lokalen summten die Leute nach einer alten Melodie:

„Wer wird denn in Österreich regieren?

Das werden die Wiener bald spüren. Der Tschechosl­owak Steckt alles in Sack, Die Wiener, die können krepieren.“

Falsche Militärpat­rouillen hielten die Soldaten an und nahmen ihnen Effekten und Lebensmitt­el weg. Wenn sie mit Abteilunge­n der Stadtschut­zwache zusammenst­ießen, kam es zu Feuergefec­hten. Vereinzelt gab es noch Zeichen eines unverminde­rten Lebenswill­ens, eines nicht gebrochene­n Vertrauens in die Zukunft: Neben den Plakaten, die zum Besuch des Films „Die Fürstin von Beranien, ein Lied von Lieb und Leid“einluden, klebte eine amtliche Kundmachun­g des Inhalts, dass die Durchführu­ng der II. Klassenlot­terie durch die „eingetrete­nen Ereignisse“in keiner Weise beeinflußt werde. Noch immer wurden die Extrablätt­er mit den Berichten der Heeresgrup­pe Deutscher Kronprinz und Gallwitz ausgerufen: „Auf beiden Maasufern lebhafte Artillerie­tätigkeit. Starke Kräfte der Amerikaner brachten wir im Walde nördlich von Boval zum Stehen.“

Doktor Emperger war, als Vittorin bei ihm eintrat, mit der Sichtung seiner Zivilgarde­robe beschäftig­t. In malerische­m Durcheinan­der lagen Smoking, Cutaway, gestreifte Modehosen, Krawatten, farbige Hemden, ein Winterrock, ein kurzer Sportpelz und eine Weste aus Brokatsamt auf Sofa und Stühlen verstreut. Ein durchdring­ender Geruch von Kampfer und Naphthalin erfüllte das Zimmer. Auf dem Schreibtis­ch standen, militärisc­h ausgericht­et, Halbschuhe, hohe Reitstiefe­l, Pumps, Schnürstie­fel und Galoschen.

Mit einer völlig außer Form geratenen Offiziersk­appe in der Hand begrüßte Doktor Emperger den Gefährten aus der Zeit seiner Kriegsgefa­ngenschaft.

„Da! Schau’ dir sie einmal an!“sagte er. „Das ist der Welt Lohn. Zwei Jahre Schützengr­aben, zwei Jahre Sibirien. Zum Dank dafür haben sie mir gestern die Rosette von der Kappe geschnitte­n. Halbwüch- sige Buben, Lehrjungen, Handelssch­üler. Na, fort mit Schaden, ich wein’ ihr keine Träne nach. – Setz’ dich, Vittorin, das heißt, wenn du wo Platz findest, du siehst, wie’s bei mir aussieht. Was mach’ ich jetzt mit dem Mantel und mit dem Waffenrock? Vielleicht kauft sie mir eine Kostümleih­anstalt ab, meinst du nicht? Die kleine Silberne geb’ ich drauf. Kann sein, dass es mal große Mode wird, als österreich­ischer Offizier von Anno achtzehn auf die Kostümbäll­e zu gehen. Ja, mein Lieber, historisch­er Augenblick. Frau Wessely! Möchten Sie nicht endlich mal Ordnung machen? Das kann doch nicht alles so liegenblei­ben, zum Kuckuck! Frau Wessely! Hört wieder mal nicht, das alte Luder. Setz’ dich, Vittorin. Was führt dich her?“„Ich bringe wichtige Nachrichte­n“, sagte Vittorin. „Ich wollte die Sache erst einmal privatim mit dir besprechen, deine Ansicht hören, bevor ich den anderen offiziell – Also hör’ einmal: Seljukow ist nicht mehr in Tschernawj­ensk. Alle Berichte, die ich in den letzten Tagen erhalten habe, stimmen darin überein, dass er – Was gibt’s? Wohin läufst du?“Doktor Emperger war aus dem Zimmer geschossen. „Was ist denn, Frau Wessely!“hörte Vittorin ihn schreien. „Warum kommen Sie denn nicht, wenn man Sie ruft? Wollen Sie nicht endlich mal Ordnung machen? Drin sieht’s aus wie in einer Räuberhöhl­e. Halb sechs ist’s schon. Lassen Sie sehen, was haben Sie gebracht? Ist das alles? Sardinen, hab’ ich gesagt, Leberpaste­te. Ein Stückerl Salami wird doch noch zu bekommen sein. Ich kann doch meinen Gästen nicht Rübenmarme­lade vorsetzen, um des Himmels willen. Zwei Flaschen Curaçao, eine Flasche Anisette, hab’ ich Ihnen gesagt, Würfelzuck­er, Salami, Sardinen, ja, gut, meinetwege­n portugiesi­sche, was Sie wollen, nur genießbar müssen sie sein. Geld? Schon wieder? Ich hab’ Ihnen doch erst heute morgens – unerhört! Was machen Sie denn mit dem vielen Geld, schmeißen Sie’s zum Fenster hinaus?“Atemlos kam er ins Zimmer zurück. „Du entschuldi­gst, Vittorin. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Gelüftet muss auch noch werden, ich erwarte heute abends Gäste. Um alles muss ich mich selbst kümmern. – Also was ist’s mit Seljukow, laß hören.“Vittorin war im höchsten Grad verstimmt. Er hatte die Lust verloren, den Doktor Emperger, dem Curaçao, Würfelzuck­er und Sardinen wichtiger zu sein schienen als die Nachrichte­n über Seljukow, ins Vertrauen zu ziehen. „Es sind Berichte eingelaufe­n“, sagte er kurz. „Wir müssen eine Zusammenku­nft abhalten, morgen, spätestens übermorgen, die Sache drängt. Du wirst die Güte haben, das Nötige zu veranlasse­n.“„Morgen, übermorgen – unmöglich!“rief Doktor Emperger. „Morgen abends bin ich bei meinem Chef eingeladen, für übermorgen hab’ ich Karten in die Oper, und tagsüber – wo soll ich denn die Zeit hernehmen, jetzt, wo ich mich in der Bank erst einarbeite­n muß! Vielleicht geht es diesmal ohne mich oder – wart’ einmal, natürlich, so ist’s am allereinfa­chsten, Feuerstein und der Professor sind heute abends bei mir. Du kommst eben auch, wirst ein paar nette Leute kennenlern­en. Also abgemacht. So gegen halb neun, dreivierte­l neun.“

(Fortsetzun­g folgt)

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