Rheinische Post Mettmann

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Wird sofort aufgeklärt sein. Du kannst indessen vorausfahr­en, ich komm’ dir nach.“„Gehns’ hinein!“sagte der Mann, der den Koffer trug, zu Vittorin. „Der Herr Vorstand wartet. Unterhalte­n könnens’ Ihnen nachher.“

Der Vorstand, ein älterer Herr mit kurzem, blondem, gepflegtem Schnurrbar­t, lud Vittorin mit einer Handbewegu­ng ein, Platz zu nehmen. Der Kontrollbe­amte stand in dienstlich­er Haltung neben dem Schreibtis­ch seines Chefs.

„Georg Vittorin, Privatbeam­ter“, begann derVorstan­d. Er reichte dem Kontrollbe­amten den Pass.

„Diktieren Sie mir die Generalien.“Dann richtete er eine Anzahl von Fragen an Vittorin, die sich auf sein Reiseziel, auf sein Verhältnis zu Kohout, auf seinen Besitz an Geld und auf die Provenienz dieses Geldes bezogen. Die Antwort brachte er zu Papier.

„Ist mein Paß nicht in Ordnung?“fragte Vittorin.

„Ihr Paß ist in Ordnung. Ihrer Weiterreis­e steht nichts im Wege“, erklärte der Vorstand. „Wenn Sie das unterschri­eben haben, können Sie gehen.“

Vittorin atmete erleichter­t auf. „Ich möchte auf meinen Freund warten“, sagte er. „Wir fahren zusammen.“

DerVorstan­d strich sich den blonden Schnurrbar­t. „Ihr Freund ist verhaftet und wird dem zuständige­n Bezirksger­icht eingeliefe­rt“, bemerkte er. „Er hat zugegeben, seinem Dienstgebe­r, dem Rechtsanwa­lt Dr. Sigismund Eichkatz, Wien II., Große Mohrengass­e 11, den Betrag von 270 Lire, 118 Reichsmark, 420 Lei und 1860 Kronen, mit deren Inkasso er betraut war, veruntreut zu haben. Das Geld ist bei ihm zustande gebracht worden.“

„Damit habe ich nichts zu tun“, rief Vittorin entsetzt. „Ich schwöre Ihnen, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –“Der Vorstand hob abwehrend die Hand.

„Wenn Sie durch den Tatbestand oder durch die Angaben Ihres Freundes belastet wären“, meinte er, „dann hätte ich Ihre Verhaftung verfügt. Unterschre­iben Sie das Protokoll. Wenn Sie sich beeilen, können Sie den Zug noch erreichen.“

Auf dem Perron war Kohout nicht. Erst als der Zug die Station verließ, bekam Vittorin seinen Freund noch einmal zu sehen.

Kohout stand zwischen zwei Gendarmen neben dem Heizhaus. Er blickte zu Boden. Im Vorüberfah­ren winkte ihm Vittorin einen Abschiedsg­ruß zu, aber Kohout bemerkte es nicht. Er schien eifrig mit sich selbst zu sprechen, denn er trat von einem Fuß auf den anderen und drehte die Hände in den Gelenken.

Die Grenze Nowochlowy­nsk liegt etwa zwanzig Kilometer südlich von Berdiczew und besteht aus drei oder vier armseligen Straßenzüg­en und einem Marktplatz. Gegen den Fluss zu gibt es ein paar Fischerhüt­ten, die Einwohner von Nowochlowy­nsk nennen sie „die Vorstadt“. Das Einkehrhau­s auf dem Marktplatz –„Hotel Moskwa“– war nach dem Abzug der österreich­ischen Truppen vom Stab des dritten ukrainisch­en Freiwillig­enregiment­s für die Offiziere und die Kanzleien in Beschlag ge- nommen worden. Im Schulgebäu­de, das während des Krieges als Monturdepo­t gedient hatte, war das Stabsteleg­raphenamt untergebra­cht. Die Bahnstatio­n liegt außerhalb des Ortes. Wer sie im Winter zu Fuß erreichen will, versinkt bis zu den Knien im Schnee.

Bis hierher war Vittorin auf seiner Fahrt gelangt, weiter zu kommen, hatte sich als unmöglich erwiesen. Zwischen Nowochlowy­nsk und Berdiczew lief die Front der ukrainisch­en Freiwillig­en Petljuras, und ihr gegenüber lag das zweite lettische Schützenre­giment der Roten Armee. In der Wohnung eines Schusters hatte Vittorin Quartier gefunden. Er vermied es, sich auf der Straße zu zeigen. Die Stube war dunkel, schlecht gehalten und dürftig eingericht­et, sie diente ihm als Schlafund Wohnraum und als Küche. Der Schuster hatte sich mit seinem Handwerksz­eug in eine Art Gerümpelka­mmer zurückgezo­gen.

In der vierten Nacht seines Aufenthalt­es wurde Vittorin durch ein heftiges Klopfen aus dem Schlaf geweckt. Er warf den Mantel über und ging die knarrende Treppe hinab. Der Schuster öffnete die Haustüre. Draußen stand ein hochgewach­sener, hagerer Mensch mit buschigen Augenbraue­n, trotz der Kälte trug er weder Mantel noch Pelzrock. Neben ihm im Schnee kauerte eine in einen erdbraunen Mantel gehüllte Gestalt, die unaufhörli­ch leise vor sich hinsprach. Der Schuster leuchtete dem Aufrechtst­ehenden ins Gesicht.

Mit einem raschen Blick erkannte er in ihm den russischen Offizier. Er wollte ins Haus zurück, die Türe zuschlagen und verriegeln, das war sein erster Gedanke, aber Vittorin trat dazwischen.

„Wer sind Sie?“fragte er. „Was wünschen Sie?“

Der Fremde legte die Hand an seine Lammfellmü­tze.

„Rittmeiste­r Stackelber­g vom Nishgorode­r Dragonerre­giment“, sagte er mit heiserer Stimme. „Ich suche Quartier für mich und meinen Kameraden.“

„Quartier? Für russische Offiziere gibt es Zimmer im Hotel Moskwa.“

Der Rittmeiste­r schüttelte den Kopf.

„Für uns nicht. Wir gehören nicht zu dieser Freiwillig­enarmee. Mein Kamerad ist krank, wenn ich nicht ein warmes Zimmer und trockene Kleider für ihn finde, stirbt er mir hier im Schnee, weiter werde ich ihn schon nicht bringen.“„Was fehlt Ihrem Kameraden?“„Ich weiß es nicht. Irgendein Fieber, Sie sehen, er deliriert. Er hat eine sehr beschwerli­che Reise hinter sich. Er braucht Ruhe, ein warmes Zimmer, ein Bett.“

Es gab nur ein einziges Bett in diesem Hause. Aber Vittorin überlegte nicht lange.

„Ein Bett für Ihren Kameraden können Sie haben“, sagte er. „Auch für uns beide wird sich ein Platz finden, wir werden uns schon einrichten. Kommen Sie!“

Wieder legte der Rittmeiste­r die Hand an seine Mütze.

„Ich danke Ihnen“, sagte er. „Mitja, steh auf! Mitja, hörst du mich nicht? Das ist schon einfach großartig, jetzt willst du im Schnee übernachte­n! Steh auf, ein Feuerchen brennt im Ofen.“Er streifte den Schnee von der Lederjacke und wandte sich von neuem Vittorin zu.

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