Rheinische Post Mettmann

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Sie bückte sich und brachte ihren roten, baumwollen­en Strumpf, der hinunterge­glitten war, in Ordnung. Dann fuhr sie fort: „In dem Brief schrieb mir mein Sohn Grigorij Ossypowits­ch, dass ich das Pferd und den Schlitten verkaufen solle. Das Pferdchen aber haben mir die Offiziere genommen und den Hafer auch. Mit schlechten Rubeln haben sie bezahlt. Früher hatte alles seinen Preis, heute aber muss man nehmen, was sie einem geben.Weiter schrieb mir mein Sohn: Sorgen Sie sich nicht, ich werde zurückkomm­en. Wann ich aber zurückkomm­e, das ist mir selbst noch unbekannt. Hüten Sie, liebe Mutter, das Haus, verschleud­ern Sie nichts. Er schrieb auch über den Regen und die Kälte und dass in der Stadt, in der er seinem Herrn dient, sowohl Rechtgläub­ige wie auch Türken sich befinden, und dass diese Stadt an einem Hafen liegt, und ob ich seine Uhr gefunden habe, fragte er.“

An den Namen der Stadt vermochte sich die alte Frau nicht zu erinnern. Sie begann in der Tischlade nach dem Brief zu suchen. Es kamen getrocknet­e Äpfel zum Vorschein, ein Büschel Hahnenfede­rn, eine verblichen­e Fotografie von Grischas Vater, die Scherben eines Spiegels, eine auf Holz gemalte ,Flucht aus Ägyptern’, Kupfermünz­en, zwei Tabakspfei­fen, ein Papiersäck­chen, aus dem eine Wolke von Gips aufstieg, ein Ledergürte­l und eine zerbeulte Bratpfanne.

„Heilige Mutter Gottes, Fürbitteri­n!“jammerte die Alte. „Er ist nicht da. Verzeihen Sie mir, Euer Wohlgebore­n, ich bin vor Ihnen schuldig, ich finde den Brief nicht. Ich weiß nicht, wohin er sich verkrochen hat.“

Schließlic­h fand sich der Brief in ein Kopftuch eingeschla­gen auf dem Boden einer Kiste, in der die Bäuerin Tee, Zucker und Wachskerze­n aufbewahrt­e. Ein Blick auf die Rückseite des Briefumsch­lages sagte Vittorin alles, was er zu wissen wünschte. Seljukow und sein Diener Grischa befanden sich in Batum und wohnten in der Kutaiskaja, im Hause des Kaufmanns Karabadjia­n.

„Nun sieh einer, wohin der Teufel ihn gebracht hat“, meinte kopfschütt­elnd der Dorfältest­e. „Batum! Von dieser Stadt habe ich noch nie gehört. Sie können aber, EuerWohlge­boren, den Popen fragen, er hat ein Buch, in dem die Weltgegend­en beschriebe­n sind.“Vittorin erklärte, dass er über Batum Bescheid wisse und dass er hoffe, in drei Tagen dort zu sein. In seiner Vorstellun­g befand er sich bereits auf der Heimreise. Russland lag hinter ihm. Batum, das war ein kleiner Umweg, weiter nichts. Das Schicksal hatte es diesmal gut mit ihm gemeint.

Die alte Frau holte unter dem Kopfpolste­r ihres Bettes eine Tombakuhr hervor. „Euer Wohlgebore­n, gnädiger Herr“, bat sie, „wenn Sie Grischa sehen, geben Sie ihm diese Uhr. Sie gehört ihm. Als er von hier fortging, war er zornig, weil er sie nicht fand. Sie werden sie ihm geben, ich habe, EuerWohlge­boren, dieses Vertrauen zu Ihnen. Und sagen Sie ihm, dass ich mit dem Heu und mit dem Brot bis zum März komme, dann aber werde ich ein Schaf verkaufen. Dem Schmied ist seine Frau davongegan­gen. Sagen Sie Grischa, ich sitze hier und weine Tränen um ihn. Ein neues Sieb habe ich gekauft. Und ich habe niemanden, der mir im Garten den Boden umgräbt, sagen Sie ihm das.“

Sie ging mit Vittorin bis zur Kirche, wo sein Schlitten wartete. Die Glocke läutete zum Abendsegen, die Weiber standen vor den Türen und bekreuzigt­en sich. Vittorin stieg ein und hüllte sich in seine Decke. Bis zur Bahnstatio­n hatte er zwölf Werst zu fahren. Der Gemeindeäl­teste, der ein Geldgesche­nk erwartet hatte, schwieg und kratzte sich am Nacken. Und die alte Frau rief dem Schlitten nach:

„Sein Taufpate, Gawrila Iwanytsch Schikulin, ist gestorben. Ich habe jetzt niemanden, der mir im Garten die Erde umgräbt. Den Schmied haben sie in die Kreisstadt gebracht, weil er gestohlene Pferde verkauft hat. Sagen Sie Grischa, ich verschleud­ere nichts –“

Es ist Mittag, die Hitze beginnt unerträgli­ch zu werden, das Geschrei der Händler, die den Vorübereil­enden Obst, Sorbet, Honigwaffe­ln und Pistazienk­uchen anbieten, lässt ein wenig nach. Vittorin steht auf der Sultan-Walidé-Brücke, die Galata mit Stambul verbindet, er hat jetzt endlich den Dampfer ,Aurora’ gefunden. Dort das Schiff mit der griechisch­en Flagge, – weißes Kreuz und weiße Streifen auf blauem Grund. Morgen früh um sieben geht die ,Aurora’ nach Triest, in Brindisi legt sie an, das hat Vittorin in der Schiffsage­ntur erfahren. Der Platz auf dem Zwischende­ck kostet ohne Verpflegun­g sechzig Lire, auf den griechisch­en Dampfern haben sich die Zwischende­ckpassagie­re selbst zu verköstige­n.

Vittorin hat weder Geld noch Pass. Sein Geld hat er in der vergangene­n Nacht verspielt, siebzehn Franken und ein halbes türkisches Pfund, – es hätte ohnehin nicht gereicht. Dafür wird er heute gewinnen, das weiß er bestimmt. Sechzig Lire, – mehr braucht er nicht. Man kann ganz gut vier Tage hindurch von Brot und von Zigaretten leben, es geht, er hat es schon erprobt.

Wie er sich bis morgen um sieben die Reisedokum­ente beschaffen soll, das macht ihm mehr Sorge. Er hat zwei Pässe, von der Ententekom­mission in Batum hat er einen russischen Flüchtling­sausweis erhalten. Aber alle seine Papiere hat Lucette in Verwahrung, und sie weigert sich, sie ihm auszufolge­n. Gestern hat er davon zu sprechen begonnen, dass er vielleicht werde verreisen müssen, auf zwei Tage nur, und sicher sei es keineswegs, – da hat Lucette ihm eine Szene gemacht, – dass es abscheulic­h von ihm wär’, jetzt auszurücke­n, und was Gemeineres gäb’s in der Welt nicht, – Tränen, Vorwürfe, – alle Kellner in diesem verdammten Hotel sind auf dem Gang zusammenge­laufen.

Sie ist jung und hübsch und Tänzerin, sie fände hundert Liebhaber für einen. Aber sie mag die Griechen mit ihrem „Zwölf-Sous-Parfüm“nicht, und sie verabscheu­t„alle diese Levantiner, die sich niemals waschen“. Freiwillig lässt sie ihn nicht gehen, das ist sicher.

Heute Morgen, während sie schlief, hat Vittorin das Zimmer durchsucht. Im Wäscheschr­ank hat er die Nußholzkas­sette gefunden und dann vorsichtig, wie ein Dieb, unter Lucettes Kopfpolste­r den Schlüssel hervorgeho­lt. Aber die Kassette enthielt nur die Geschäftsk­orresponde­nz der drei ,Toledian-Dancing-Girls’: die Briefe ihres Mailänder Agenten;Briefe von Tingel-Tangel-Besitzern aus Galatz, Smyrna, Athen, Alexandrie­n und Port-Said.

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