Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Zeitungsausschnitte mit den Bildern der Toledo-Girls; zerdrückte Schleifen, Reste verwelkter Blumen und einen ganzen Stoß Briefe, die mit ,Pancrace’ unterzeichnet waren. Pancrace, – von einem Herrn dieses Namens haben Ethel und Adele, die Tanzpartnerinnen Lucettes, wiederholt gesprochen. Wer dieser Pancrace ist und welche Rolle er in Lucettes Leben spielt, das weiß Vittorin nicht. Er weiß nur, daß er diesen Namen schon gehört hat.
Seine Pässe hat Vittorin in der Kassette nicht gefunden. Lucette muss noch ein zweites Versteck im Zimmer haben. Dort, wo sie ihren Schmuck aufbewahrt, dort sind auch seine Papiere.
Es ist halb eins, Lucette ist gewöhnt, dass er ihr beim Frühstück Gesellschaft leistet. Wenn er sich nicht beeilt, kommt er zu spät. Hinauf nach Pera geht eine Drahtseilbahn, in zehn Minuten könnte er oben sein, aber er hat die zwanzig Para nicht. Alles in der Nacht verspielt. Gegen ein Uhr steht Lucette auf, nach dem Frühstück raucht sie eine Abrazigarette, dann badet sie, dann legt sie Patience oder spielt mit Ethels Papagei, – so vergeht ihr Tag. Wenn der Rumäne kommt, der Besitzer des Café Elisée, in dem die Toledian-Girls tanzen, dann empfängt ihn Lucette in einem Morgenkleid, das bis an den Hals geschlossen ist. Er bekommt nicht viel zu sehen, der arme Herr Lupescu.
In Batum hat Vittorin sie kennengelernt. Er hatte an diesem Tag als Gepäckträger im Hafen genau so viel verdient, dass er sich in einem Café auf dem Mariinskijprospekt eine Mahlzeit gönnen konnte. Der Regen hatte die drei Toledian-Girls in das armselige Lokal getrieben. Das war sein erstes Zusammentreffen mit Lucette. Jetzt geht es ihm gut, die Zeit des Hungerns ist vorüber. Er spielt Geige im Café Elisée. Lucette weiß es überall, wo sie auftritt, durchzudrücken, dass er fürs Orchester engagiert wird. Wenn die Toledian-Girls am Abend tanzen, – als Spanierinnen, als exotische Schmetterlinge, als Priesterinnen des Gottes Shiwa oder als Dandys mit weißer Hemdbrust und Monokel, – dann blickt er über seine Notenblätter hinweg auf Lucette, er folgt mit den Augen jeder ihrer Bewegungen und ist, nach soviel Wochen Zusammenseins, noch immer voll Staunen darüber, dass diese Frau ihm gehört und sonst keinem. Wenn er mit ihr allein ist und ihren geschmeidigen und beweglichen Körper an sich presst, muss er sich immer wieder sagen, dass das die Tänzerin Lucie d’Aubry ist, auf die am Abend im Café Elisée hundert begehrliche Blicke gerichtet sind. Wenn sie mit geschlossenen Augen und halbgeöffnetem Mund in stummer Ermattung in seinen Armen liegt, dann träumt er von ihrer Stimme und von ihrem Lachen.
Er muss fort. Es ist ihm nicht leicht gefallen, diesen Entschluss zu fassen. Er kann es sich nicht vorstellen, wie es ihm möglich sein wird, ohne sie zu leben. Aber die Pflicht, die ihm auferlegt ist, verlangt ein letztes Opfer von ihm. Wenn die Sache Seljukow erledigt ist, kehrt er zu Lucette zurück, er wird sie finden, ob sie nun in Konstantinopel ist oder in Rustschuk oder in Smyrna. Er lässt nicht mehr von ihr.
Er hat Seljukow in Batum nicht getroffen. Vor fünf Monaten schon ist Seljukow nach Konstantinopel gereist. Vittorin ist hinter ihm her, in allen Hotels der Stadt hat er nach ihm gefragt, in den Luxusrestaurants, in den Speisehäusern, in den Bars, in den Cafés, in den Brasserien, in allen Spelunken Galatas und in allen Spielhöllen von Pera hat er ihn gesucht. Seit drei Tagen weiß er, dass Seljukow in Rom ist.
Rom, Via Nationale, Hotel Royal des Etrangers. Dort wird Vittorin ihn finden. Er sieht in Seljukow nicht mehr den hochmütigen russischen Offizier, der ihn beleidigt hat. Seljukow ist der böse Geist einer entarteten Zeit. In ihm hasst Vittorin alles Schändliche, das seine Augen sehen, in ihm hasst er die Schieber, die Valutageier, die Raubtiermenschen, die sich in den Besitz der Welt geteilt haben. Konstantinopel ist voll von diesen düsteren Gestalten, voll von Menschen, deren Fingerabdrücke in den Polizeiämtern registriert sind, überall sieht man ihre gierigen und gemeinen, verschwommenen und verfetteten Gesichter. Sie verdienen am Krieg, an der Politik, an der Spionage. Drüben in der Krim kämpft die Armee des Generals Wrangel ihren letzten Kampf. Die hinten liefern, sie schachern, sie betrügen, sie liefern denWeißen und den Roten, wer mehr bezahlt, dem gehören sie. Sattelzeug, Hufnägel, Revolvertaschen, Putzhadern, Wagenschmiere, verdorbenes Büchsenfleisch. Wenn sie ihre Geschäfte abschließen, strömt der Champagner.
Sie sind zahlreich, sie sind unangreifbar, sie sind überall, in Paris, in Bukarest, in Wladiwostok. Nur an einem von ihnen kann Vittorin die Menschheit, die sie verraten, die Welt, die sie verpestet haben, rächen, und dieser eine ist Seljukow.
Gluthitze liegt über den Straßen der Stadt. Jetzt ist Vittorin in der Grande Rue de Pera. Unten in Galata versehen Karabinieri den Polizei- dienst, hier oben stehen englische Bobbys mit blau weißen Armbinden. Auf der Terrasse des Hotels des Londres sitzen zwischen englischen und griechischen Offizieren die Schieber, die Schmeißfliegen, die Aasgeier: Menschen von unbestimmbarer Nationalität mit ihren aufgeputzten Weibern, – auch ihre Weiber verkaufen sie, wenn der Preis ihnen zusagt, das ist für sie ein Geschäft wie jedes andere. Von den Häusern wehen Fahnen in den Farben der Siegerstaaten. Kein einziger Fes, kein Tarbusch ist in der Perastraße zu sehen. Die Türken bleiben in ihren Häusern, sie sind fremd geworden in ihrer eigenen Stadt.
Vor dem kleinen Hotel, in dessen erstem Stockwerk die Artisten, die im Café Elisée auftreten, einlogiert sind, steht, sein Stöckchen schwingend, die Zigarette schief im Mundwinkel, ein junger Mensch mit einem Weibergesicht und flachsblondem, in die Stirne gestrichenem Haar. Er grüßt Vittorin auf eine vertrauliche Art, indem er zwei Finger flüchtig an den Rand seiner Sportmütze legt. Mit einem Gefühl des Unbehagens erinnert sich Vittorin, dass er diesen Menschen in der vergangenen Nacht am Spieltisch kennengelernt hat.Was will der Mensch hier, warum steht er vor dem Hotel? Vittorin hat sein Geld verloren, aber er ist keinem seiner Partner auch nur einen Centime schuldig. Nun? Sie wünschen, mein Herr?
Der Herr scheint nichts zu wünschen. Der Herr wendet sich ab und geht, sein Stöckchen schwingend, langsam die Straße hinunter. Schon während er die Treppe hinauf ging, vernahmVittorin die erzürnte Stimme der Tänzerin.