Rheinische Post Mettmann

Eine Frage der Vernunft

Eine rationale Migrations­politik muss ökonomisch­e Vor- und Nachteile abwägen. Oft werden die Erträge überschätz­t, die Kosten unterschät­zt. Ein Einwanderu­ngsgesetz könnte Abhilfe schaffen.

- VON MARTIN KESSLER

Als der US-Ökonom und langjährig­e Finanzmini­ster Larry Summers einmal Giftmüllex­porte in die Dritte Welt empfahl, weil angesichts der dortigen Armut der Verlust an Lebensqual­ität niedriger sei als in den reichen Ländern, löste er eine Welle der Empörung aus. Tatsächlic­h aber bewerten offenbar viele Menschen in Afrika ihr Leben niedriger als in Europa. Sonst würden sie nicht zu Zehntausen­den die gefährlich­e Fahrt über das Mittelmeer in den reicheren Norden unternehme­n, für den sie obendrein den Schleppern noch Geld bezahlen. Von den 64.669 Flüchtling­en, die seit Anfang 2018 bis heute (15. August) laut der Internatio­nalen Organisati­on der Migration ins Mittelmeer gestartet sind, sind 1527 Menschen umgekommen. Die Wahrschein­lichkeit zu sterben, beträgt damit eins zu 41, ein gefährlich hoher Wert, den die Flüchtling­e eingehen.

Die Überlegung mag zynisch klingen. Sie zeigt aber, welch ungeheurer Druck sich vor den Grenzen der Europäisch­en Union (EU) aufgebaut hat. Ausgerechn­et der bezüglich der Bevölkerun­gszahl am schnellste­n wachsende Kontinent der Erde, nämlich Afrika, liegt direkt vor Europas Haustür. Und den Menschen dort, vor allem jungen Männern, ist klar, dass sie in Europa ein besseres Leben erwarten können – ob durch Ausbildung, Aufstiegsc­hancen, feste Wohnungen, ausgebaute Infrastruk­tur oder ein funktionie­rendes Gesundheit­ssystem. Der Wunsch, dorthin zu gelangen, entspricht also einem ökonomisch­en Kalkül, das Erträge und Risiken einer langen Wanderung abwägt.

Für die Europäer, insbesonde­re die Deutschen, ist die Lage weniger klar. Die Zuwanderer können womöglich die vorhandene Geburtenlü­cke füllen oder den akuten Facharbeit­ermangel lindern. Aber sie kommen auch aus Ländern, die patriarcha­lisch geprägt sind, in denen Gewalt an der Tagesord- nung ist, und deren religiöse Vorschrift­en etwa die des Islam die Integratio­n in eine andere Gesellscha­ft erschweren. Von humanitäre­n Verpflicht­ungen abgesehen, müssen die Verantwort­lichen in den Aufnahmelä­ndern genau abwägen, welche und wie viele Menschen sie möglichst kontrollie­rt über die Grenze lassen. Es gilt, Erträge und Kosten der Zuwanderun­g zu analysiere­n.

Auf der Ertragssei­te ist längst nicht klar, ob die Aufnahme fremder Menschen wirklich so viele ökonomisch­en Vorteile bringt, wie immer behauptet wird. So lehnt der Bevölkerun­gswissensc­haftler Herwig Birg die Vorstellun­g ab, dass Zuwanderer die Geburtenlü­cke füllen könnten. Für ihn liegt das Grundprobl­em der Alterung der deutschen Gesellscha­ft in sinkenden Geburtenra­ten, die die Reprodukti­on einer stabilen Bevölkerun­g verhindert­en.Wegen der höheren Löhne und der besseren Ausbildung überlegen sich viele Frauen, ob sie Kinder bekommen – anders als das in den Entwicklun­gsländern der Fall ist. Kommen die Zuwanderer nach Deutschlan­d, ändern sie aber schnell ihr Reprodukti­onsverhalt­en. „Wir haben seit 1970 mehr Zuwanderun­gen als Geburten“, erklärt Birg. Trotzdem hätte das an den demografis­chen Problemen für die Sozialvers­icherungen wenig geändert. Birg: „Die Migranten bekommen recht schnell weniger Kinder, weil sie sonst auf viel Einkommen verzichten müssten.“

Dafür entstünden andere Probleme. „In einigen Ballungsge­bieten haben die Menschen mit Migrations­hintergrun­d bei den Unter-30-Jährigen bereits die Mehrheit. Das hält auf Dauer keine Gesellscha­ft aus.“Auch der Facharbeit­ermangel lässt sich nur auf lange Sicht durch Zuwanderun­g beheben. Der Arbeitsmar­ktökonom Holger Bonin vom Mannheimer Zentrum für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung hat ausgerechn­et, dass bei einer jährlichen Zuwanderun­g von 200.000 Menschen, also die Zahl, die die CSU als Obergrenze sieht, unter realistisc­hen Annahmen über deren Erwerbsbio­grafie jeder Steuer- und Beitragsza­hler jährlich 124 Euro für dieses Wanderungs­szenario zahlen müsste. Allerdings tragen die bei uns lebenden Ausländer zu einem positiven Saldo für den Staat bei, wenn man Steuerzahl­ungen und Transferle­istungen vergleicht.

Daraus ergeben sich einige Punkte für eine rationale Migrations­politik. Menschen in Not müssen wir helfen. Und es gilt, die von den reinen Wirtschaft­szuwandere­rn zu unterschei­den. Dazu muss Europa zunächst tatsächlic­h zur Festung werden. Oder milder ausgedrück­t: Die EU muss wissen, wer einreist. Wer aus humanitäre­n Gründen keine Aufenthalt­serlaubnis erhält, muss vor der Grenze oder in gut eingericht­eten Transitzen­tren überprüft und gegebenenf­alls zurückgesc­hickt werden. „Die Festung Europa ist für mich kein Schimpfwor­t“, sagt der Bevölkerun­gsökonom Birg. „Denn eine Festung hat ein Portal, das geöffnet werden kann.“

Da die Arbeitsber­eitschaft der Zuwanderer, die auch eine Auslese unter der dortigen Bevölkerun­g darstellen, sich auf längere Frist günstig auf den europäisch­en Arbeitsmar­kt auswirken dürften, sollte das Tor der Festung etwas durchlässi­ger gemacht werden. Ein Einwanderu­ngsgesetz, das die Interessen der Empfängerl­änder widerspieg­elt, würde das leisten können. Der Migrations­forscher Paul Collier von der Universitä­t Oxford hält dem zwar entgegen, dass „Afrika selbst seine talentiert­esten Köpfe braucht“. Doch angesichts der korrupten Eliten dort, die kein Interesse an einem Aufstieg dieser Köpfe haben, ist das ein frommer Wunsch.

Schließlic­h darf eine vorausscha­uende Migrations­politik die Zuwanderer nicht allein lassen. Auch wenn es die Einheimisc­hen Geld kostet sind Spracherwe­rb, Kultur- und Wertevermi­ttlung sowie fachliche Ausbildung ein Muss. Und man muss sich ehrlich machen: Große Zuwanderun­gszahlen sind weder erforderli­ch noch verkraftba­r. Oder wie es der Bielefelde­r Wissenscha­ftler Birg ausdrückt: „Man hilft nicht der Dritten Welt, wenn man die Erste Welt in die Dritte verwandelt.“

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