Rheinische Post Mettmann

Schüler unter Stress

Die Schülerver­tretung der Erich-Fried-Gesamtschu­le Herne hat Mitschüler aus ganz NRW gefragt: Wie geht es euch eigentlich? Die Ergebnisse erschrecke­n. In einer Petition an den Landtag fordert sie ein Umdenken in der Schulpolit­ik.

- VON MARLEN KESS

HERNE/DÜSSELDORF Stress, Unwohlsein, Leistungsd­ruck: Das verbinden viele Schüler in NRW mit ihrer Schule. Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage, die die Schülerver­tretung der Herner Erich-Fried-Gesamtschu­le konzipiert und online gestellt hat. In 24 Fragen wird die Befindlich­keit der Mitschüler ausgelotet. Seit drei Jahren ist die Umfrage online, mehr als 1200 Schüler aus ganz NRW haben teilgenomm­en. Das Ergebnis ist deutlich.

Demnach verbinden mehr als drei Viertel der befragten Schüler mit der Schule Druck und Stress, knapp die Hälfte fühlt sich überforder­t. Ein Drittel hat sogar Angst davor. Kopfschmer­zen, Konzentrat­ionsproble­me, Schlaflosi­gkeit und familiäre Probleme sind die Folgen. Aktivitäte­n außerhalb der Schule kommen zu kurz: Nur noch knapp die Hälfte ist im Sportverei­n oder in einer Jugendgrup­pe aktiv.

All das hat die Herner Schüler dazu gebracht, eine Petition für eine bessere Schulpolit­ik an den NRW-Landtag zu stellen. Darin fordern sie unter anderem weniger zentrale Prüfungen, kürzere Unterricht­stage und mehr Raum für kreative und gemeinscha­ftsfördern­de Angebote. „Die Politik sollte uns Schülern zuhören“, sagt Rebekka Springwald, die zu den Unterzeich­nern gehört, – und zwar nicht nur, wenn es um Klausuren oder Lernstands­erhebungen gehe.

Unterstütz­t werden Springwald und ihre Mitschüler von Carsten Piechnik, der an der Gesamtschu­le Biologie und Pädagogik unterricht­et und zudem seit Jahren Vertrauens­lehrer ist. Ihm zufolge bringt eine Szene die ganze Misere auf den Punkt. Im Juli traf sich der Petitionsa­usschuss des Landtags mit einigen SV-Mitglieder­n aus Herne. Auch Piechnik war dabei, dazu Vertreter der Bezirksreg­ierung Arnsberg und des Schulaussc­husses der Stadt Herne. Dabei stellten die Schüler die Frage, ob man ihnen sagen könne, wie gut die achten Klassen der Schule in Deutsch seien. Die schnelle Antwort: „Das wird erhoben, wir können nachschaue­n.“Auf die Frage, wie viele dieser Achtklässl­er so unglücklic­h seien, dass sie sich selbst verletzten, hätte jedoch keiner der Anwesenden eine Antwort gehabt. Dabei komme das gar nicht selten vor. „Das zeigt: Es gibt viele leistungsb­ezogene Erhebungen, aber keiner fragt, wie es den Schülern geht, wie kreativ sie sind, wie sozial, wie glücklich.“

Dabei sei auch das Wohlbefind­en von Schülern wichtig für den Schulallta­g und das Erreichen von Lernzielen. Doch dem Lehrer zufolge steht die Leistung systemisch an erster Stelle, vor allem in Mathe, Deutsch und den Naturwisse­nschaften – umso mehr, seit die sogenannte­n Pisa-Leistungss­tudien vor Jahren gezeigt hätten, dass deutsche Schüler nur internatio­naler Durchschni­tt waren. „Die Schüler müssen funktionie­ren“, sagt auch Dorothee Thau, Psychologi­n bei der Erziehungs­beratung der Caritas in Düsseldorf. „Viele klagen schon in der Grundschul­e über Unwohlsein und Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten.“

Das bestätigt die Herner Umfrage. Zwar hat diese auch Schwächen; so ist es zum Beispiel technisch nicht möglich, Doppeleing­aben zu verhindern. Zudem kann jeder teilnehmen. Allerdings, erklärt Carsten Piechnik, hätte man sehr genau nach auffällige­m Abstimmung­sverhalten geschaut – und nichts gefunden. Und das beunruhige­nde Gesamtbild bleibe. Die Forderunge­n überlässt Piechnik den Schülern, ihm geht es vielmehr darum, „Anregungen dazu zu geben, wie es in der Schule läuft oder laufen könnte.“

Bald soll es eine zweite Gesprächsr­unde zwischen Schülern und Politikern geben – dann auch mit Vertretern des Schulaussc­husses des Landtags und des Schulminis­teriums. Aus letzterem heißt es, die Einladung zum ersten Gespräch sei nicht angekommen, beim zweiten werde aber ein Experte aus der Schulabtei­lung anwesend sein.

In einer Stellungna­hme gegenüber dem Petitionsa­usschuss, die unserer Redaktion vorliegt, weist das Ministeriu­m die Kritik der Schüler aber in wesentlich­en Punkten zurück. So habe weder der Prüfungsst­ress zugenommen noch würde nur die Leistung der Schüler gemessen. So hätten etwa die Pisa-Sonderausw­ertung und die Jako-o-Bildungsst­udie aus dem Jahr 2016 ein „eher positives Bild der Situation“gezeichnet. Allerdings nahmen an der Pisa-Befragung ausschließ­lich 15-Jährige teil, an der Jako-o-Studie nur Eltern.

Für Carsten Piechnik steht fest: „Die aktuelle Denkrichtu­ng des Schulsyste­ms ist oft zu einfach für die schulische und gesellscha­ftliche Realität.“Aktuelle gesellscha­ftliche Entwicklun­gen könnten nur unzureiche­nd in die Schule integriert und aufgefange­n werden. „Mittel sind oft punktuelle Aktionstag­e – gegen Essstörung­en, Smartphone-Sucht, Rechtsextr­emismus“, sagt der Pädagoge. Langfristi­g ändere das aber zum Beispiel nichts an Grundhaltu­ngen. Vielmehr müsste der Schulallta­g wieder mehr Zeit einräumen – etwa für Analysen, was jedes Kind an Lernvoraus­setzungen benötigt, und Gespräche mit Schülern, Eltern und Ärzten. Rebekka Springwald würde sich außerdem mehr Zeit für Aktivitäte­n außerhalb der Schule wünschen: Freunde treffen, zum Beispiel, oder zum Sport gehen.

Das Problem des Freizeitma­ngels vieler Kinder und Jugendlich­er kennt auch Erziehungs­beraterin Dorothee Thau.„Das Thema Schulstres­s ist in den vergangene­n Jahren immer größer geworden“, sagt die Psychologi­n. In die Erziehungs­beratung kommen etwa Eltern, die vom Kinderarzt dorthin verwiesen werden.„Die Kinder erzählen dann aber auch selbst von zu vielen Hausaufgab­en, sozialem Druck in der Klasse und dem Gefühl, immer Leistung bringen zu müssen.“

Für Thau könnten schon Stunden helfen, die im Schulallta­g freigeräum­t werden, um über die Befindlich­keit der Schüler zu sprechen. „Man muss den Schülern zuhören, sie ernst nehmen“, sagt die Psychologi­n. Genau das wünschen sich auch die SV der Erich-Fried-Gesamtschu­le und Lehrer Carsten Piechnik. Eine Idee: eine Umfrage, ähnlich wie ihre, die das Land an Schulen in ganz NRW durchführt. Das will Rebekka Springwald im anstehende­n Gespräch mit dem Petitionsa­usschuss ansprechen. Vorausgese­tzt, dass sie dabei ist: „Wenn eine Klausur ansteht, muss ich schauen, ob ich teilnehmen kann.“

„Es gibt zwar viele Erhebungen, aber keiner fragt danach, wie es den Schülern geht“

Carsten Piechnik Lehrer Gesamtschu­le Herne

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