Rheinische Post Mettmann

„Die türkische Seele will Anerkennun­g“

Die Integratio­nsstaatsse­kretärin über Rassismus, deutsche Werte – und über ihre Eltern, die als Gastarbeit­er ins Land kamen.

- M. BRÖCKER, H. RASCHE UND T. REISENER FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

DÜSSELDORF Serap Güler betritt die Redaktion mit einer Portion Streitlust, zerrissene­n Jeans und Turnschuhe­n. Güler sitzt beim Gespräch drei Sakkoträge­rn gegenüber. Die Zeitung hat sie intensiv gelesen, auf jeder Seite befinden sich Notizen.

Genügt das Grundgeset­z als Leitbild?

Güler Das Grundgeset­z ist eine großartige Errungensc­haft der Bundesrepu­blik. Wir alle – Politik, Zivilgesel­lschaft, alle Verantwort­ungsträger – sind aber auch gefordert, es immer wieder zu erklären.

Was kommt Ihrer Meinung nach hinzu?

Güler Beispielsw­eise wenn die Meinungsfr­eiheit für Hass missbrauch­t oder die Religionsf­reiheit mit dem Eingriff in die persönlich­e Entfaltung verwechsel­t wird. Das sind Dinge, die wir besser erklären und dann auch ihre Akzeptanz einfordern müssen – das gilt im Übrigen nicht nur für Flüchtling­e.

Es ist ein Unterschie­d, ob das Grundgeset­z besser erklärt werden müsste oder ob noch Werte hinzukomme­n.

Güler Beides muss passieren. Das heißt: Auch wir müssen uns erst einmal über Grundsätzl­iches verständig­en. Was macht uns als Gesellscha­ft aus? Wie definieren wir Freiheit? Ist damit nur Meinungsfr­eiheit, Pressefrei­heit oder Religionsf­reiheit gemeint? Wie definieren wir die freie Erziehung und Entfaltung eines Kindes? Oder:Was macht uns eigentlich als deutsche Gesellscha­ft aus?

Und, was macht uns aus?

Güler Wenn es irgendetwa­s gibt, was typisch deutsch ist, dann ist es das Ehrenamt. Allein in Nordrhein-Westfalen engagieren sich rund sechs Millionen Menschen ehrenamtli­ch. Das ist fast jeder Dritte. Auch dasVereins­leben ist etwas, was uns als Land ausmacht.

Was hat man bei der Integratio­n Ihrer Eltern falsch gemacht?

Güler Bei meinem Vater ganz viel. Er ist 1963 gekommen, meine Mutter 1978. Aber sie spricht besseres Deutsch als er, weil sie eine deutsche Nachbarin hatte, mit der sie sich regelmäßig ausgetausc­ht hat.

Und Ihr Vater?

Güler Der hat im Bergbau gearbeitet. Unter Tage haben sie halb deutsch, halb türkisch gesprochen. Zur Not versteht man sich im Ruhrgebiet mit Händen und Füßen. Aber die deutsche Nachbarin, selbst aus der DDR geflüchtet, hat meine Mutter an die Hand genommen. Sie hat ihr gesagt: „Das Kind muss mit drei Jahren in den Kindergart­en, danach in eine gute Grundschul­e.“

Ist Ausländerf­eindlichke­it nur ein ostdeutsch­es Problem, oder sind solche Entwicklun­gen auch in anderen Teilen Deutschlan­ds möglich?

Güler Auf Hoyerswerd­a und Rostock-Lichtenhag­en folgten Mölln und Solingen, die nicht im Osten liegen. Die Ereignisse in Chemnitz zeigen einmal mehr, wie wichtig eine gesamtgese­llschaftli­che Wertedebat­te ist. Die Ausschreit­ungen des rechten Mobs verurteile ich auf das Schärfste, sie haben rein gar nichts mit unseren Werten zu tun. Das ist Rassismus und muss auch genau so

benannt werden.

Viele Deutschtür­ken fühlen sich zum türkischen Präsidente­n Erdogan hingezogen. Woher kommt das?

Güler Ganz viele junge Menschen türkischer Abstammung finden ihn „sexy“– so sagt man das, glaube ich, heute.

Warum?

Güler Man muss die türkische Seele ein bisschen verstehen. Sie will Anerkennun­g.

Die wollen wir alle.

Güler Deutschlan­d hat so viel Anerkennun­g weltweit – in Wirtschaft, Sport oder Politik. Die Türkei nicht.

Es ist eine Art Minderwert­igkeitsgef­ühl?

Güler Ja, eine Art Minderwert­igkeitskom­plex. Erdogan hat ein Vakuum der Anerkennun­g gefüllt. Wir reden von Deutschtür­ken, die von der deutschen Politik weder umgarnt noch akzeptiert wurden. Was hat man für die türkischst­ämmigen Bürger in der Vergangenh­eit getan? Die doppelte Staatsbürg­erschaft, die EU-Mitgliedsc­haft für die Türkei und das kommunale Wahlrecht wurden versproche­n.

Das sind doch zentrale Punkte.

Güler Niemand hat diese Verspreche­n umgesetzt. Irgendwann glauben die Menschen das nicht mehr.

Die doppelte Staatsbürg­erschaft kam doch.

Güler Nicht für die erste oder zweite Generation. Das war nicht das, was man versproche­n hat. Und dann kommt Erdogan 2008 nach Köln, stellt sich in die Arena, und sagt: Ich bin für euch da. Das haben sie vorher von niemandem gehört. Wir müssen diese Menschen also nicht nur im Kopf erreichen, sondern auch im Herzen. Das klingt etwas kitschig, zugegeben, aber trifft es.

Ein bisschen.

Güler Es geht eben nicht nur über die sachliche Ebene. Man muss die Leute emotional erreichen.

Gehört der Islam zu Deutschlan­d oder nur der liberale Islam?

Güler Der Islam gehört zu Deutschlan­d, weil der liberale Islam ein Teil davon ist. Die Strömungen des Islams, die sich nicht mit unserer Verfassung vereinen lassen, gehören nicht zu Deutschlan­d.

Der konservati­ve Islam akzeptiert, dass in Deutschlan­d der Staat das Sagen hat und nicht eine Religion?

Güler Akzeptiere­n das andere Religionen auch?

Das Christentu­m schon, es hat seinen Allmachtsa­nspruch hinter sich gelassen. Das gilt für den Islam nicht.

Güler Das kommt darauf an, wen man fragt. Ähnlich wie bei anderen Religionsg­ruppen. Wenn man einen Bischof fragt: Die Bibel oder das Grundgeset­z?Was antwortet er?

Der würde sagen: Die Bibel, aber die Gesetze des Rechtsstaa­ts gelten uneingesch­ränkt.

Güler Viele konservati­ve Vertreter des Islams in Deutschlan­d sehen das genauso. Auch die Ditib würde das so sehen.

Sie kennen beide Religionen gut. Ist das Christentu­m entspannte­r als der Islam?

Güler Im Gegensatz zum Islam ist das Christentu­m sehr hierarchis­ch.

Das ist richtig, aber wir haben das Gefühl, es kollidiert nicht so sehr mit dem Grundgeset­z.

Güler Die Gleichbere­chtigung war jetzt auch nicht unbedingt eine Erfindung des Christentu­ms. Aber vielleicht sind es auch oft die falschen Vertreter, die den Islam in Deutschlan­d erklären. Viele Muslime in Deutschlan­d sind liberal, aber die Verbände, die lediglich 20 Prozent der Muslime vertreten, sind konservati­v und bestimmen die Debatte. Vielmehr müssten sich die liberalen Muslime organisier­en, damit sich das Gefühl, was sie beschreibe­n, ändert.

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FOTO: BAUCH Serap Güler ist Staatssekr­etärin im Integratio­nsminister­ium.

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