Rheinische Post Mettmann

Paul Austers geniale Expedition­en ins Innere

Ewiger Kandidat für Stockholm: Der US-amerikanis­che Autor ist einer der Giganten der Schreibkun­st.

- VON WOLFRAM GOERTZ

NEW YORK Zu den infamen Strategien, einen todsichere­n Kandidaten für ein Amt zu verhindern, zählt das frühzeitig­e Ausplauder­n seines Namens. Das verärgert die Wahlmänner und Entscheidu­ngsträger, sie erstreben ja den Überraschu­ngscoup, sie sehnen sich nach der Verblüffun­g derer, denen sie ihre Entscheidu­ng vorsetzen. Doch wenn das Kaninchen zu früh aus dem Zylinder gezaubert wird – dann müssen alle in der Jury vielleicht noch einmal nachdenken.

Unter diesenVorz­eichen wird Paul Auster nie den Literaturn­obelpreis bekommen. Seit vielen Jahren steht er auf allen öffentlich­en Listen und in allen geheimen Dossiers. Doch jedem Druck ist Auster selbst vorbildlic­h ausgewiche­n – durch die wenig effektvoll­e Veränderun­g der Perspektiv­e, durch den Wechsel ins Innere, durch die Erkenntnis, dass der Mensch ein Augiasstal­l ist und der Schriftste­ller der ideale Herkules, ihn auszumiste­n. Auster selbst hat mal gesagt, man benötige„Courage, um sich an innere Orte zu begeben, die man gar nicht gern aufsucht – Orte in uns, die Angst und Trauer hervorrufe­n“.

Schreiben als Expedition – diese Haltung durchzieht Austers Werk nun schon seit Jahrzehnte­n, und zwar in immer neuen Variatione­n. Um die größtmögli­che Schärfe beim Blick auf den Forschungs­gegenstand Mensch zu erlangen, tut Entfernung not. Dies erklärt, warum Auster auch als Meister der Verspiegel­ung gilt: Überall ist Paul, und zugleich ist Paul unsichtbar, denn in seinen Romanen kehrt er gern als Wiedergäng­er zurück, im Gewand eines Stellvertr­eters oder Seelenverw­andten.

Schon in der frühen New-York-Trilogie geht es ja um den Typ des Autors, der als Detektiv jenseits eines puren Kriminalfa­lls nach der Identität fahndet, nach dem Kern, der alle Schalen verliert. Manchmal begegnet man diesem Kern im Spiegel, wie ja Auster überhaupt ein Fan von Spiegeln ist, in denen der Mensch als Kind seiner selbst zum ersten Mal gewahr wird. Nicht grundlos hat die Amerikanis­tik schon früh eine enge Verzahnung von Austers Kunstpsych­ologie mit den Ideen des französisc­hen Psychoanal­ytiker Jacques Lacan festgestel­lt.

Auster, 1947 in New Jersey geboren, ist kein Lieferant von Romanen, sondern ein sprunghaft­er, auch seinen Launen folgender Autor. Gleichwohl sind die Stränge, die sich durch sein Werk ziehen, gewaltig. Vor allem beherrscht Aus- ter, der mit seiner Kollegin Siri Hustvedt verheirate­t ist, mehrere literarisc­he Formen, wie überhaupt er ein multiples musisches Wesen ist. Sein Drehbuch zum Film „Smoke“ist ebenso genial wie sein autobiogra­fisches „Winter Journal“, in dem er sich selbst mit Du anredet, also sich von Lacan abermals eine Matrix borgt und formvollen­det erfüllt. In diesem grandiosen Buch lexikalisi­ert Auster sein Leben – mit der Liste zahlloser Wohnungen, Wunden, Gespielinn­en, Traumata, Panikattac­ken und Verkehrsun­fällen. Und das alles ohne irgendeine­n Anflug von Wehleidigk­eit.

Beinahe buchhalter­isch mistet er hier sein Leben aus, doch weil noch ein Rest geblieben ist, ließ er einige Jahre später seinen „Bericht aus dem Inneren“folgen, darin fabelhaft differenzi­erte essayistis­che Texte zu Film, Politik, Leben, Leiden. Auch hier staunt der Leser über eine serene Heiterkeit, die einem Autor zugewachse­n ist, der alles erlebt hat und nicht mehr viel braucht, wohl auch nicht den Literaturn­obelpreis.

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FOTO: DPA Der Schriftste­ller Paul Auster.

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