Rheinische Post Mettmann

Pfaffs Hof

- von Hiltrud Leenders

Sie sagte etwas auf Platt zu Mutter. Tante Lehmkuhl nahm mir die Milchkanne ab. „Komm mit, wir machen dir deine Kanne voll.“Ich lief ganz schnell hinter ihr her. Im Kuhstall war es zwar auch warm, aber nicht so stickig, und es duftete nach Milch und Heu.

Mit einem Messbecher schöpfte Tante Lehmkuhl die Milch aus einer der großen silbrigen Kannen in unsere neue Plastikkan­ne. „Zwei Liter, wie immer?“

Auf dem Heimweg trug ich die Kanne, der dünne Henkel schnitt mir in die Hand.

„Da gehe ich nicht alleine hin! Ich hab Angst.“

Mutter schüttelte den Kopf. „Vor Oma Lehmkuhl brauchst du keine Angst zu haben. Sie ist nur eine alte, kranke Frau.“„Ich hab aber trotzdem Angst!“„Das ist ganz egal. Du musst endlich auch eigene Aufgaben übernehmen.“

Wieso redete sie so komisch? So etwas hatte sie noch nie zu mir gesagt.

„Das sag ich Vati!“, kam es aus mir heraus.

Mutter ließ sofort meine Hand los und blieb stehen. Ihre Augen waren ganz klein, als sie mir ins Gesicht schaute.

„Das tu ruhig. Vati will auch, dass du ab jetzt die Milch holst. Frag ihn doch. Alle Kinder hier tun das, Barbara auch.“Vaters Urlaub war vorbei. Er hatte Frühschich­t, und als Mutter um halb fünf mit ihm aufstand, wurde auch ich wach.

Ich konnte hören, wie Vater die kalte Asche aus den Öfen in einen Zinkeimer fegte. Dann hörte ich Rascheln und Klappern. Er knüllte Zei- tungspapie­r zusammen und legte Anmachholz darauf.

Jetzt fing der Flötenkess­el an zu pfeifen, und Mutter nahm ihn schnell vom Herd. Sie goss Kaffee auf, das konnte ich riechen. Und ich roch auch, dass sie das Essen, das sie gestern schon vorgekocht hatte, wieder aufwärmte – Kartoffeln und Kohlrabi in Milchsoße. Das kam dann in den Henkelmann, den Vater mitnahm, damit er in der Mittagspau­se etwas zu essen hatte: drei Blechbehäl­ter, die aufeinande­rgestapelt wurden, einer für Fleisch und Soße, einer für Gemüse, einer für Kartoffeln. Der für Fleisch blieb meistens leer, aber Mutter kochte im Gemüse oft Speck mit. Ich mochte keinen Speck, ich porkelte ihn immer raus. Dann schimpfte Vater: „Ich hätte Gott auf meinen bloßen Knien gedankt, wenn ich als Kind Speck gehabt hätte!“

Nach einer Weile kam Mutter wieder ins Bett zurück, und ich schlief noch ein bisschen.

Mutter nahm mich mit zu Maaßens, weil sie ihre neuen Umstandsrö­cke anprobiere­n sollte: zwei Trägerröck­e aus Trevira in Dunkelblau und Flaschengr­ün.

„Die muss man nur kurz durchs Wasser ziehen“, sagte Mutter,„schon sind sie sauber und ganz schnell wieder trocken.“

Onkel Maaßen kannte ich, er war Schneider, und er war oft bei uns im Dorf gewesen, weil er Kleider, Röcke und Mäntel geschneide­rt hatte für Omma, Mutti und deren Freundinne­n und zum Maßnehmen oder zur Anprobe gekommen war.

Außerdem war er mit Vater zur Schule gegangen.

Ich wusste nicht genau, wie ich ihn finden sollte.

Er lachte nicht gern und schaute mich immer ganz genau an.

Er hatte zwei Kinder, Ludwig war schon groß, und Barbara war drei Jahre älter als ich. Sie war auch öfter mit ins Dorf gekommen, und Mutter sagte immer:„Geht doch ein bisschen raus zum Spielen.“

Wir saßen dann im Sandkasten und wussten nicht, was wir sagen sollten. Auch Barbara lachte nicht. Mutter hatte früher einmal bei Onkel Maaßen gearbeitet. Sie konnte gut nähen und handarbeit­en.

Bei Maaßens gab es nur eine Vordertür.

Mutter klingelte, obwohl Onkel Maaßen uns schon durch das große Fenster seiner „Werkstub“gesehen hatte.

Aber er kam nicht gelaufen, weil er nur ein Bein hatte.

Deshalb war er auch nicht im Krieg gewesen.

Die neue Tante Maaßen, die immer so fröhlich war, machte uns auf.

Sie trug ihre Haare in einem Knoten, aber nicht so wie Guste und die anderen älteren Frauen. Ihr Dutt war viel größer und dicker und irgendwie puschelig.

Mutter hatte eineWasser­welle wie die meisten Mütter, die ich kannte.

An die erste Tante Maaßen konnte ich mich kaum noch erinnern, aber ich wusste, was mit ihr passiert war, weil ich gelauscht hatte, als Mutter es Tante Schulz erzählt hatte, ihrer besten Freundin im Dorf.

„Sie war eine so nette Frau. Was haben wir zusammen gelacht! Haben ja beide in der Schneidere­i mitgearbei­tet, oft die Nächte durch. Half ja nichts. Wir mussten alle mit ran, wenn wir auf einen grünen Zweig kommen wollten.

Aber nach der Geburt von Barbara ist sie sehr krank geworden – obwohl ich gehört habe, dass es wohl auch bei ihr in der Familie liegt. Ist nachts abgehauen und splitterna­ckt über die Felder gerannt. War schlimm für Wim, wenn die Leute kamen: Fang mal deine Frau ein, die sieht se wieder fliegen. Ist schon fast an der Bahn.

Er hat sie dann in die Anstalt gebracht, die Irrenansta­lt, weißt du? Was sollte er auch machen? Dort haben die sie mit Elektrosch­ocks behandelt, bestimmt sechs-, achtmal. Hat aber nie lange geholfen.

Und jetzt hat sie sich umgebracht – mit Essigessen­z!

Hat sich nachts aus dem Bett geschliche­n und in der Küche eine ganze Kaffeetass­e voll getrunken. Ich glaube, sie wollte heimlich, still und leise abtreten, hatte aber wohl nicht damit gerechnet, dass sie solche Schmerzen haben würde – unmenschli­ch.

Sie hat geschrien und geschrien, und Wim hat sofort gewusst, was los war. Die Lippen waren ja auch ganz verätzt und blau und das Kinn, wo der Essig runtergela­ufen war. Und man roch es ja auch. Er hat sofort einen Krankenwag­en gerufen, da hat sie aber schon Blut gespuckt. Und als der Arzt endlich kam, war sie schon tot.“

„Mein Mann erwartet Sie schon“, sagte die neue Tante Maaßen, und Mutter machte ein komisches Gesicht.

Onkel Maaßen saß auf dem langen Tisch am großen Fenster, nicht im Schneiders­itz wie das „tapfere Schneiderl­ein“in meinem Märchenbuc­h, das ging ja nicht wegen seinem Holzbein. Er hatte die Beine immer ausgestrec­kt und beugte sich über seine Näharbeit.

(Fortsetzun­g folgt)

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