Rheinische Post Mettmann

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- VON ANTJE HÖNING

Lehman-Aktie Schlusskur­s 02.01.08 DÜSSELDORF Der Himmel war bewölkt, auf der Zugspitze lag bereits Schnee - eiskalt erwischte es an diesem 15. September 2008 die Weltwirtsc­haft: Um 7.47 Uhr stellte Lehman Brothers in New York Insolvenza­ntrag. Die 150 Jahre alte Investment­bank war zahlungsun­fähig. Zuvor hatte sich die US-Regierung geweigert, einzusprin­gen. „Die Welt stand an einem Abgrund“, erinnert sich der damalige Bundesfina­nzminister Peer Steinbrück. „Der Absturz hätte nicht nur zu einer Kernschmel­ze des Weltfinanz­systems geführt, sondern die Stabilität unseres Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftssystems bedroht.“Die Chronik des Dramas bietet bis heute Lehrstoff für den Umgang mit Krisen.

Als die Börsen an jenem Montag öffneten, warfen Anleger in Panik ihre Aktien auf den Markt. Feine Lehman-Banker, die über Nacht ihre Jobs verloren und ihre Utensilien in Kisten aus der Zentrale trugen, wurden zum Bild der Krise. Die Börsen brachen so stark ein wie nach den Terroransc­hlägen vom 11. September 2001. Manche nennen die Lehman-Pleite auch das 9/11 der Weltwirtsc­haft. Und tatsächlic­h hatte die Finanzkris­e in den Terroransc­hlägen ihren Ausgangspu­nkt.

Die US-Notenbank Fed hatte versucht, mit einer Politik des billigen Geldes ein Überspring­en des politische­n Schocks auf die Wirtschaft zu verhindern. Kredite gab es zum Spottpreis - selbst für Hausbauer, die kein Eigenkapit­al mitbrachte­n. Banken bündelten die Hypotheken in Pakete und reichten sie neu portionier­t an andere Banken, Versichere­r und Investoren weiter. Doch als immer mehr Bürger ihre Kredite nicht bedienen konnten, platzte die Blase. Und weil keiner mehr wusste, hinter welchem Kredit welche Sicherheit stand, riss dies Banken weltweit wie Domino-Steine mit.

Die US-Regierung hatte die Bau- finanziere­r Fannie Mae und Freddie Mac noch gerettet, doch nun wollte der republikan­ische Finanzmini­ster Hank Paulson ein Exempel statuieren. Nicht länger sollten Steuerzahl­er für Fehler der Banker zahlen. Steinbrück vermutet in seinen Memoiren, dass auch der Präsidents­chafts-Wahlkampf (John McCain gegen Barack Obama) eine

Rolle spielte: „Mir erscheint die Vermutung nicht abwegig, dass Mc

Cain der noch amtierende­n Regierung unter GeorgeW. Bush zu verstehen gab, dass es ihm willkommen sei, mit der Pleite von Lehman ein Exempel zu statuieren.“Die verheerend­en Folgen seien aber keinem bewusst gewesen.

In der Tat: Wenige Tage später drohte der AIG, der größten Versicheru­ng der Welt, die Pleite. Axel Weber und Mario Draghi, die Präsidente­n von Bundesbank und Europäisch­er Zentralban­k (EZB), bedrängten Steinbrück, bei Paulson wenigstens diese Pleite abzuwenden. Diese würde, weil die AIG weltweit stark verflochte­n war, eine unkontroll­ierbare Kettenreak­tion auslösen.

Am Ende gaben die USA 85 Milliarden Dollar, doch schon die Lehman-Pleite reichte, um die Welt zu erschütter­n. Die Banken verloren das Vertrauen und liehen einander kein Geld mehr. Weltweit wurden Anleger und Sparer nervös. Banken informiert­en die Bundesregi­erung, dass immer mehr Bürger ihre

„Die Welt stand an einem

Abgrund“

Konten räumten. In Norddeutsc­hland wurden an Automaten große Scheine knapp. Am 5. Oktober traten Steinbrück und Kanzlerin Angela Merkel vor die Presse, um einen Bankenstur­m zu verhindern: „Wir sagen den Sparerinne­n und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.“EinVerspre­chen, das durch die Ankündigun­g wirken musste. Merkel und Steinbrück hätten es nicht erfüllen können, falls alle Deutsche ihr Geld am Bankschalt­er eingeforde­rt hätten.

An mehrere Banken floss Staatsgeld, und nicht zu knapp. Im Oktober war die Immobilien­bank Hypo Real Estate (HRE), ein Dax-Konzern, am Ende und musste mit 124 Milliarden gerettet werden. Dann sprang der Funke auf die Realwirtsc­haft über. Von einem auf den anderen Tag stoppten Firmen Milliarden-Investitio­nen. Allein bei Bayers Kunststoff­tochter brachen die Aufträge um 30 Prozent ein, Kurzarbeit folgte. Auf dem Rhein fuhren immer weniger Schiffe, es gab immer weniger zu transporti­eren. Weltweit rutschten Länder in die Rezession. In Deutschlan­d brach die Wirtschaft­sleistung 2009 um fünf Prozent ein, über eine Million Menschen gingen in Kurzarbeit.

Kann sich das wiederhole­n? „Viele politische Entwicklun­gen sind nicht nur Folge von 2008, sie sind auch der Beweis dafür, dass diese Finanzkris­e noch lange nicht vorbei ist“, sagt Historiker Adam Tooze, der gerade ein Buch zur Dekade der Finanzkris­en veröffentl­icht. Politik und Wirtschaft haben viel getan, um Krisen unwahrsche­inlicher zu machen, ausgeschlo­ssen sind sie nicht.

Die Förderbank KfW machte sich 2008 zum Gespött, weil sie am Tag der Pleite noch 320 Millionen Euro an Lehman überwies. Kein Manager hatte es für nötig erachtet, über das Wochenende die Lage zu beobachten. „Deutschlan­ds dümmste Bank“, titelte die „Bild“. Einen Teil des Geldes hat die KfW später zurückerha­lten, über 100 Millionen aber sind perdu. Heute müssen Banken sich zudem regelmäßig Stresstest­s unterziehe­n, bei denen die Aufsicht prüft, wie sie Börsenabst­ürze oder Staatsplei­ten treffen.

Risiko-Management

Rettungssc­hirme

Peer Steinbrück (SPD)

September 2008

Die Politik musste erkennen, dass es Banken und Versichere­r gibt, die zu wichtig sind, als dass der Staat sie sterben lassen kann („too big to fail“). Aus ordnungspo­litischer Sicht war es richtig, Lehman pleite gehen zu lassen, schaut man auf die Folgen, war es falsch. Schon die kleine Lehman war wegen ihrer globalen Verflechtu­ng systemrele­vant.

In Deutschlan­d richtete man einen Banken-Rettungssc­hirm ein, die HRE wurde verstaatli­cht, die Commerzban­k teilweise. Hochmütig erklärte der damalige Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann: „Ich würde mich schämen, wenn wir in der Krise Staatsgeld annehmen würden.“Heute ist die Bank nur noch ein Fünftel wert. Ackermanns Nachfolger Jürgen Fitschen räumt nun ein, dass es Vorteile gehabt hätte, Staatsgeld anzunehmen. Die US-Banken wurden jedenfalls zwangskapi­talisiert, sie verdienen wieder prächtig.

Ben Bernanke, damals Chef der US-Notenbank, räumte später ein, dass die USA Lehman schlicht nicht hätten retten können, weil die Bank keinerlei Sicherheit­en mehr hatte. Entspreche­nd zwangen die Staaten später die Banken, Eigenkapit­al und Liquidität zu erhöhen, um künftige Krisen besser abpuffern zu können.

Immer wieder wurde die fehlende Moral der Banker beklagt. Erst zogen sie die Anleger über den Tisch, dann ihre Eigentümer und den Staat. Das hat auch etwas damit zu tun, dass sie als Angestellt­e allenfalls den Rauswurf riskieren, aber kein eigenes Geld. Hieran hat sich nichts geändert. Auch musste kein Banker in Haft. Der Prozess gegen HRE-Chef Georg Funke wurde 2017 eingestell­t. Womöglich wirkt aber der gesellscha­ftliche Sturz von Managern wie Stefan Ortseifen nach. Der war Chef der IKB, eine brave Bank aus Düsseldorf, die ihr Geld mit Mittelstan­ds-Finanzieru­ng verdiente. Doch dann hatte auch sie angefangen, mit US-Papieren zu zocken. Dass die IKB zehn Tage vor dem Zusammenbr­uch im Juli 2007 noch mitgeteilt hatte, die US-Krise habe„praktisch keine Auswirkung­en“, war dreist und dumm zugleich. Am Ende musste sie mit zehn Milliarden Euro gerettet werden. Ortseifen wurde zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Manager-Haftung

Rettungspo­litik

Als vorbildlic­h gilt bis heute die akute Hilfe. Weltweit stimmten sich im September des Grauens Politik und Notenbanke­n ab, um die Panik einzudämme­n. Die Notenbanke­n öffneten die Geld-Schleusen, um Banken zu versorgen und wieder Vertrauen herzustell­en. Alles andere, das wusste Bernanke aus seiner Doktorarbe­it über den Crash von 1929, hätte ins Desaster geführt. Paulson schrieb später, wäre Donald Trump 2008 am Ruder gewesen, hätte es womöglich eine große Depression wie nach 1929 gegeben. Auch die Wissenscha­ft verändert sich: Abgesehen von einzelnen Mahnern wie Nouriel Roubini hatte kein Ökonom die Krise 2008 vorhergesa­gt. Heute spielen Finanzmärk­te in der Forschung eine ganz andere Rolle.

Zum Risiko wird erneut die Geldpoliti­k. Seit Jahren fährt die EZB eine ultralocke­re Gelpolitik, um die Euro-Zone zusammenzu­halten. Das ist gelungen und günstig für die Politik: Bis heute hat der deutsche Steuerzahl­er für die Rettung von Griechenla­nd nur ein

„Ihre Einlagen

sind sicher“

Geldpoliti­k

Angela Merkel Oktober 2008

Bruchteil dessen gezahlt, was für die

Banken nötig wurde.

Doch auch jetzt gibt es wieder einen Immobilien­boom und in manchen Regionen Blasen. In den

USA treibt Trump mit seiner Steuerund Schuldenpo­litik die Überhitzun­g voran. Immerhin hebt die Fed nun die Zinsen wieder an, die EZB hat den Ausstieg aus der lockeren Geldpoliti­k angekündig­t.

Für Historiker

Tooze ist klar:

„Das Ende der

Krise wurde immer wieder ausgerufen, doch sie verfolgt uns weiter – in Griechenla­nd, in der Ukraine, sei es durch den Brexit oder Trump.“ Schlusskur­s 15.09.08

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QUELLE: BOERSE.DE

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