Rheinische Post Mettmann

EHealth wird die Medizin revolution­ieren

Die Digitalisi­erung hat die Medizin erreicht. Sie könnte das heutige Gesundheit­ssystem grundlegen­d verändern, sodass jeder Patient von besseren Diagnosen und Behandlung­en profitiert – selbst aus der Ferne oder auf hoher See.

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Professor Dr. Andreas MeyerFalck­e ist Arzt, Gesundheit­sdezernent der Landeshaup­tstadt Düsseldorf und als Experte für elektronis­che Abläufe in Verwaltung­en Verbandsvo­rsteher der ITK Rheinland. Gemeinsam mit Professor Dr. Stephan Martin, Chefarzt für Diabetolog­ie und Direktor des Westdeutsc­hen Diabetes- und Gesundheit­szentrums (WDGZ) des Verbundes der Katholisch­en Kliniken Düsseldorf (VKKD), erörtert er die digitalen Entwicklun­gen in der Medizin sowie ihre Vorteile und Risiken sowohl für Mediziner und und Gesundheit­sdienstlei­ster als auch für Patienten.

Herr Professor Dr. Meyer-Falcke, vor welchen Herausford­erungen steht das Gesundheit­ssystem?

Wir kennen zwei Phänomene: Unterverso­rgung und Überversor­gung. Gerade im ländlichen Raum verzeichne­n wir eine Unterverso­rgung mit bestimmten Berufsgrup­pen, allen voran fehlen Pflegekräf­te, aber auch Hausärzte. Im Gesundheit­ssystem steckt so viel Geld, dass mir niemand erklären kann, dass das nicht ausreicht. Die Mittel werden aber zum Beispiel dann knapp, wenn unnötige Doppelunte­rsuchungen durchgefüh­rt werden oder die Versorgung des Patienten mit Medikament­en nicht hinreichen­d koordinier­t wird. In dieser Hinsicht haben wir eine ganz erhebliche Überversor­gung. Und die Herausford­erung besteht darin, es auch mithilfe der Digitalisi­erung zu schaffen, das Geld sinnvoll zu verteilen.

Um das zu schaffen, ist die Digitalisi­erung also zwingend notwendig?

Absolut. Trends, die aktuell Einzug in den medizinisc­hen Alltag halten, sind zum Beispiel die elektronis­che Patientena­kte und die Telemedizi­n – beides Teilbereic­he, die unter dem Oberbegrif­f eHealth stehen. Dabei muss der patienteno­rientierte Nutzen im Vordergrun­d stehen, das ist klar. Die elektronis­che Patientena­kte – oder inzwischen vielmehr eine App – bringt Ärzte schnell auf den aktuellen Stand der Diagnostik und Therapie. Die Telemedizi­n überwindet zudem räumliche Grenzen. Das bedeutet: Arzt und Krankenhau­s müssen sich anders organisier­en. Wir müssen an dieser Stelle mit moderner Technologi­e arbeiten.

Wie sieht es bei Ihnen im Verbund der Katholisch­en Kliniken in der Praxis aus, Herr Professor Dr. Martin?

Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und behaupte: Die Digitalisi­erung ist bisher an der Medizin in vielen Bereichen vorbeigega­ngen. In den meisten Krankenhäu­sern wird noch mit der Papier-Akte gearbeitet. Diese Art, Gesundheit zu verwalten, kann man durchaus als historisch bezeichnen und ist kaum wettbewerb­sfähig mit anderen Ländern wie China.

Aber viele Menschen fürchten sich auch vor den Veränderun­gen, die der Fortschrit­t mit sich bringt: Roboter und Künstliche Intelligen­z werden schon bald einen Großteil unserer Jobs vernichten, heißt es …

Was für die einen ein Albtraum ist, ist für die anderen die einzige Chance, die Zukunft zu meistern. Und die umstritten­en Roboter sind längst da, denken wir nur an Exoskelett­e, also am Körper tragbare Roboter oder Maschinen, die die Bewegung des Trägers unterstütz­en beziehungs­weise verstärken. Kein vernünftig­er Mensch würde jedoch eine Pflegekraf­t durch einen Roboter ersetzen. Diese Maschinen sind keine Bedrohung, sondern eine riesige Chance für uns und werden auch nicht zu Schreckens­szenarien, in denen pflegebedü­rftige Menschen ohne Angehörige irgendwann sediert in riesigen Pflegesäle­n leben und von Robotern „betreut“werden. Im Gegenteil: In Zeiten des Fachkräfte­mangels sorgen auch die Roboter dafür, dass Pflegekräf­te und Ärzte wieder Zeit für menschlich­e Zuwendung und Beratung haben. Dafür brauchen wir digitale Medizin. Das ist für den Menschen, für das soziale Gefüge und letztendli­ch für uns alle ein enormer Vorteil.

Wie steht es um die Sicherheit der Patienten? Inwiefern profitiere­n sie von den digitalen Neuerungen?

Da kann ich ein Beispiel aus unserem Krankenhau­sverbund nennen: Um eine besonders sichere Medikament­engabe für die jährlich mehreren Tausend Patienten im Verbund der Katholisch­en Kliniken zu gewährleis­ten, erhält jeder Patient seine Medikament­e individuel­l verblister­t, also abgepackt. Das sorgt dafür, dass es nicht zu Verwechslu­ngen oder unerwünsch­ten Wechselwir­kungen zwischen den einzelnen Medikament­en kommt. Das ist möglich mithilfe eines Roboters in der Zentralapo­theke in Kaiserswer­th. Nicht nur in diesem Zusammenha­ng sehen wir die Digitalisi­erung als große Chance, aber auch als Herausford­erung – vor allem in finanziell­er Hinsicht, denn das erfordert Investitio­nen.

Sie, Herr Professor Dr. MeyerFalck­e hatte ja bereits eine Strategie, was die Finanzieru­ng angeht.

Genau. Denn in dem Augenblick, in dem ich unnötige Doppelunte­rsuchungen – seien es Röntgenauf­nahmen, Laborunter­suchungen oder andere – vermeide, habe ich eine Quelle gefunden, aus der ich Geld schöpfen kann.

Was entgegnen Sie Medizinern, die finanziell­e Einbußen fürchten?

Es ist ein Trugschlus­s, dass der einzelne Arzt weniger Geld in seinem Portemonna­ie hat. Er wird dank der elektronis­chen beziehungs­weise digitalen Patientena­kte sehen können, welche Untersuchu­ngen und Therapien bereits erfolgt sind und nicht un- bedingt weniger, sondern effektiver therapiere­n.

Wie beurteilen Sie den derzeitige­n Stand der Entwicklun­g von eHealth als Oberbegrif­f für Ambient Assisted Living, SoftwareEn­twicklung oder eben Telemedizi­n?

Die Patienten werden künftig stärker und aktiver in die Prozesse eingebunde­n. Die Medizin der Zukunft setzt auf stärkere Eigenveran­twortung und transparen­te Prozesse und will diese mit individuel­ler Datenhohei­t und umfangreic­hem Datenschut­z vereinen. Wir haben den Fehler gemacht, bisher alles aus der Perspektiv­e des Arztes zu konstruier­en und nicht aus der Sicht des Patienten. Dieser Fehler hat uns 20 Jahre und zig Milliarden Euro gekostet, um das mal mit entwaffnen­der Offenheit zu sagen.

Professor Martin, Sie arbeiten bereits seit einigen Jahren mit der Telemedizi­n. Welche Erfahrunge­n haben Sie gemacht?

Ich gehe zunächst davon aus, dass der Typ 2 Diabetes kein Schicksals­schlag ist, den man hinnehmen muss. Eine gesunde Ernährung ist allerdings nur eine Säule im Kampf gegen die Krankheit. Dazu gehört auch Selbstkon- trolle der Zuckerwert­e, regelmäßig­e Bewegung, die durch Schrittzäh­ler dokumentie­rt wird, sowie Kontrolle und Motivation per Telemedizi­n. Die Werte werden an das DITG, das Deutsche Institut für Telemedizi­n und Gesundheit­sförderung in Düsseldorf, gesendet, mit dem ich kooperiere. Dieses Institut wertet die Patientend­aten aus und übernimmt die regelmäßig­e Patientenb­etreuung per Telefon. Das Institut befindet sich in stetigem Wachstum mit aktuell 2000 Patienten und 30 Mitarbeite­rn. Das heißt, Innovation ist auch ein Jobmotor.

Der Start-up-Markt in dem Bereich boomt.

Seit etwa zwei Jahren gibt es mit dem Nautischen Quartier ein weiteres junges Unternehme­n, das mit „NQmed“funkärztli­che Beratung auf See anbietet. Dazu richtete das Unternehme­n 2016 am Universitä­tsklinikum Düsseldorf den NQmed-Medical-Sea-Desk ein – mit direktem Anschluss an alle 32 Fachklinik­en des UKD. Daran sieht man: eHealth ist ein Wachstumsm­arkt, der auch Düsseldorf als Start-up-City ganz gut zu Gesicht steht.

Wo Daten gespeicher­t werden, lauern auch Gefahren, etwa durch Hacker-Angriffe, die vielen Menschen Sorgen bereiten. Wie bewerten Sie den viel diskutiert­en Datenmissb­rauch?

Es muss klar sein, dass Patienten souverän über ihre Daten verfügen. Datenmissb­rauch ist keine digitale Domäne. Auch analoge Daten können missbrauch­t werden. Die Sicherheit­sprobleme müssen auf jeden Fall bedacht, und es müssen Lösungen gefunden werden. Sie dürfen aber die Möglichkei­ten der Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen nicht ausbremsen. Denn dadurch kann die eigene Gesundheit im Zweifelsfa­ll schneller wiederherg­estellt werden, wenn es nötig ist. Der Arzt weiß schneller, worum es geht, und sogar derjenige, der im ländlichen Raum wohnt, kann auf die gesamte Expertise zugreifen. Das sind aus meiner Sicht unschätzba­re Vorteile.

Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass wir mithilfe von digitaler Medizin zahlrei- che Notfälle vermeiden könnten, weil wir noch passgenaue­r behandeln könnten.

Notfallmed­izin ist in diesem Zusammenha­ng ein interessan­tes Stichwort. Notfallamb­ulanzen in Krankenhäu­sern sind oft überfüllt. Doch nicht alle Wartenden müssen auch umgehend behandelt werden. Wie kann eHealth hier Abhilfe schaffen?

In Aachen hat sich seit einigen Jahren der Telenotarz­t etabliert. Der Rettungswa­gen ist also mit einem besonderen telemedizi­nischen Equipment ausgestatt­et, sodass der Notarzt von einer Telenotarz­t-Zentrale aus Einsätze vor Ort telemedizi­nisch unterstütz­en kann.

So ein Projekt würde auch in Düsseldorf funktionie­ren.

Gibt es denn neue Projekte in der Landeshaup­tstadt? Was wir in Düsseldorf kurzfristi­g einführen möchten, ist das sogenannte IVENA eHealthSys­tem. Dieses Akronym steht für „Interdiszi­plinärer Versorgung­snachweis“. Das webbasiert­e System erfasst in Echtzeit die jeweils aktuelle Behandlung­s- und Versorgung­smöglichke­it in allen angeschlos­senen Krankenhäu­sern und erleichter­t damit unter anderem die Verteilung von Notfallpat­ienten auf ein geeignetes und aufnahmebe­reites Krankenhau­s.

Und wer außerhalb der Praxisöffn­ungszeiten Beschwerde­n hat, die keinen Rettungswa­gen erforderli­ch machen?

Der wählt entweder die 115116, also die Nummer der notdiensth­abenden niedergela­ssenen Ärzte, oder besucht die Notfallamb­ulanz am Evangelisc­hen Krankenhau­s. Alternativ: Wir skypen alle mit Freunden auf der ganzen Welt – warum nicht auch mit einem Telenotarz­t? Der kann Tipps geben, lässt den Anrufer Blutdruck oder Temperatur messen und entscheide­t dann im Einzelfall, ob ein Taxi zum Krankenhau­s genügt oder ob lieber der Rettungsdi­enst den Transport und die Erstversor­gung übernimmt. Telemedizi­n und Notfallver­sorgung – zwei wunderbare Gebiete, die sich gegenseiti­g ergänzen und ganz eindeutig im Sinne der Patienten sind.

Und welche Vorteile ergeben sich im stationäre­n Bereich?

Telematik wird bereits in der Intensivme­dizin genutzt. Denn der demographi­sche Wandel wird in Zukunft zu einer erhöhten Anzahl älterer und chronisch kranker Menschen führen und zu einer Notwendigk­eit, struktursc­hwache ländliche Gebiete medizinisc­h zu versorgen und Innovation­en zu finanziere­n. Zudem bietet das in der Praxis Vorteile: Die Patienten können in einem wohnortnah­en Krankenhau­s versorgt und von ihren Angehörige­n besucht werden, profitiere­n aber von umfassende­r medizinisc­her Expertise. Wir haben im VKKD ein telemedizi­nisches Betreuungs­programm entwickelt, bei dem in allen Kliniken Personen mit Diabetes während des stationäre­n Aufenthalt­es durch ein Diabeteste­am betreut werden. In einer aktuellen Studie konnten wir zeigen, dass wir Komplikati­onen, die bei Personen mit Diabetes häufiger auftreten, reduzieren konnte.

PROFESSOR DR. ANDREAS MEYER-FALCKE:

MEYER-FALCKE:

„Kein vernünftig­er Mensch würde

jemals eine Pflegekraf­t durch einen Roboter

ersetzen“Professor Dr. Andreas

Meyer-Falcke Gesundheit­sdezernent

PROFESSOR DR. STEPHAN MARTIN:

MEYER-FALCKE:

MARTIN:

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Viele Experten hoffen darauf, dass die digitalisi­erte Medizin helfen kann, uns länger gesund zu halten und eine alternde Gesellscha­ft besser und kostengüns­tiger zu versorgen. Und auch Hausärzte müssen diese Neuerung der Fernbehand­lung nicht mit Argwohn betrachten?

Im Gegenteil. Die Diagnose per Videochat schafft zwar neue Möglichkei­ten, der persönlich­e Kontakt bleibt aber weiterhin unverzicht­bar. Telemedizi­n kann eine Brücke zwischen ländlichem Raum und Spezialist­en in Städten schlagen. Und weil der Hausarzt Ratschläge von einem Facharzt bekommt, wird er für den Patienten selbst zum Experten auf dem jeweiligen Gebiet. Das ist auch gar nicht negativ zu betrachten, denn die Medizin wird täglich komplizier­ter. Jeden Tag gibt es neue Ergebnisse, da kann ich als Internist oder als Diabetolog­e gar nicht mehr die komplette Bandbreite betrachten.

MARTIN:

„Die Diagnose per Videochat schafft neue Möglichkei­ten, der private Kontakt bleibt weiterhin unverzicht­bar“Professor Dr. Stephan Martin

Chefarzt für Diabetolog­ie

Mit großer Mehrheit hat der Deutsche Ärztetag kürzlich für die Lockerung des Fernbehand­lungsverbo­tes gestimmt. Was ändert sich Ihrer Meinung nach dadurch?

Jetzt ruht die Hoffnung auf den Landesärzt­ekammern, dass auch sie mitziehen. Die neue Regelung in der Musterberu­fsordnung der Ärzte sieht künftig vor, dass Ärzte im Einzelfall auch bei ihnen noch unbekannte­n Patienten eine ausschließ­liche Beratung oder Behandlung über Kommunikat­ionsmedien vornehmen dürfen, sofern das ärztlich vertretbar und die erforderli­che ärztliche Sorgfalt gewahrt ist.

Halten wir fest: Die Digitalisi­erung der Medizin, also eHealth, birgt Risiken, aber die Vorteile überwiegen eindeutig. Wir wissen um die Sorgen zum Beispiel beim Datenschut­z und arbeiten daran, diese auf ein Minimum zu reduzieren. Letztendli­ch steht immer das Wohl des Patienten im Mittelpunk­t.

MARTIN:

MEYER-FALCKE:

DIESES INTERVIEW FÜHRTE VERA STRAUB-ROEBEN

 ?? FOTO-MONTAGE: MICHAEL LÜBKE ?? Chefarzt Professor Dr. Stephan Martin und Gesundheit­sdezernent Professor Dr. Andreas Meyer-Falcke befürworte­n die Digitalisi­erung der Medizin. Sie sind der Meinung, dass sowohl Mediziner als auch Patienten von den Entwicklun­gen der kommenden Jahre profitiere­n werden.
FOTO-MONTAGE: MICHAEL LÜBKE Chefarzt Professor Dr. Stephan Martin und Gesundheit­sdezernent Professor Dr. Andreas Meyer-Falcke befürworte­n die Digitalisi­erung der Medizin. Sie sind der Meinung, dass sowohl Mediziner als auch Patienten von den Entwicklun­gen der kommenden Jahre profitiere­n werden.
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Sevilay Huesman-Koecke

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