Einmal Freiheit und zurück
Die friedlichen Revolutionen in Osteuropa haben den Kalten Krieg beendet. Der demokratische Auf bruch gipfelte in den EU-Osterweiterungen seit 2004. Heute regieren aber Populisten und Nationalisten. Warum ist das so?
Mitunter spiegelt sich das historisch Große am stärksten im Kleinen, im Alltäglichen. Gut ein Jahr ist es her, dass osteuropäische Lebensmittelprüfer in Produkten westlicher Hersteller, die in der Slowakei und Ungarn verkauft wurden, mehr Fett und Zuckerersatzstoffe entdeckten als in den (angeblich) gleichen Produkten, die in Deutschland oder Frankreich auf den Markt kamen. Die polnische„Gazeta Prawna“warf denWestfirmen daraufhin „Lebensmittel-Rassismus“vor. Der Osten werde diskriminiert. Wieder einmal.
Die EU-Kommission beeilte sich, neue Leitlinien für den Binnenmarkt zu erlassen. Doch das ungute Gefühl in den östlichen Staaten blieb. In bulgarischen Medien gab es Aufrufe zu einem „Aufstand des armen Europas“. Minderwertiges Essen werde an minderwertige Bürger verfüttert, hieß es in ungarischen Kommentarspalten, und wer sich bisher gefragt hat, warum ein Mann wie Viktor Orbán in seinem Land und darüber hinaus eine solche Popularität genießt, der wird genau an diesem Punkt ansetzen müssen.
Ins historisch Große gewendet, erklärt der ungarische Ministerpräsident zur umstrittenen Justizreform in Polen: „Wenn die EU gegen Polen Sanktionen verhängt, werden wir uns mit einem Veto solidarisch zeigen.“Orbáns Solidarität gilt den osteuropäischen Nachbarn, nicht der gesamten Staatengemeinschaft. Sicher, es geht in dem Streit nicht nur um einen Ost-West-Konflikt. Vielmehr ist der ungarische Premier wie die polnische PiS-Regierung dabei, die Gewaltenteilung auszuhebeln. Die Pressefreiheit ist in beiden Ländern eingeschränkt, die Unabhängigkeit der Justiz bedroht. Man will das Gleiche, und das schweißt zusammen. Aber das, was man will, ist eben doch etwas spezifisch Osteuropäisches.
Orbán spricht offen vom Modell einer „illiberalen Demokratie“. Wer nach Polen, Rumänien oder Tschechien blickt, erkennt ähnliche Ansätze. Der Rechtsstaat wird geschleift, die demokratische Teilhabe ausgehebelt. Die Opposition findet kaum noch Gehör, von Minderheiten ganz zu schweigen. Es mag auch im populistisch irrlichternden Italien, im rechtskonservativ-nationalistisch regierten Österreich oder im brexitgetriebenen Großbritannien Auswüchse des politischen Streits geben. Aber in keinem westlichen EU-Land ist die Demokratie so akut gefährdet, wie es nach dem Urteil der Venedig-Kommission des Europarates etwa in Polen der Fall ist. Und nun hat das Europaparlament ein Strafverfahren gegen Ungarn wegen Verstößen gegen Rechtsstaats-Prinzipien und europäische Grundwerte auf den Weg gebracht.
Wie tief der Riss zwischen Ost und West geht, offenbarte der Auftritt des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki im Europaparlament Anfang Juli. Der Premier erklärte, die EU habe mit den Rechtssetzungen in ihren Mitgliedsländern letztlich nichts zu tun: „Unsere Nationen wurden über Jahrhunderte durch ihre Kulturen und Institutionen geprägt. Jedes Land der EU hat ein Recht darauf, sein Justizsystem gemäß seinen eigenen Traditionen zu gestalten.“Wozu, so musste er sich fragen lassen, gibt es dann eine gemeinsame Grundrechtecharta, EU-Gerichte und einen Justizkommissar?
Viele westliche Politiker und Beobachter tun sich schwer damit, die Entwicklung im Osten zu verstehen. Wie kann es sein, fragen sie und schütteln dabei gern den Kopf, dass „die“Osteuropäer knapp 30 Jahre nach ihrem erfolgreichen Kampf für Freiheit und Demokratie offenbar nichts mehr von Liberalität und Bürgerrechten wissen wollen, sondern sich stattdessen nach autoritärer Führung sehnen? Und es ist ja auch schwer zu erklären. Das Kleine und das Große, könnte man sagen, mischen sich: Es geht um Gefühle der
Der EU-Beitritt hat den
Osteuropäern auch die „Sterblichkeit“ihrer Nationalstaaten vor
Augen geführt