Rheinische Post Mettmann

Festival: Hände voller Liebe im Puppenhaus

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN

Himmel, wie viele Geschichte­n es über die Liebe gibt! Nie wird man müde, von ihnen erfahren zu wollen, weil das Sehnen, der Schmerz und die Erfüllung der poetischst­e gemeinsame Nenner der Menschen sind. Auf ungewöhnli­che Weise erzählt davon das Tanztheate­r „Kiss & Cry“, mit dessen NRW-Premiere das Düsseldorf Festival jetzte die Spielzeit eröffnete.

Die Bühne – eine Miniaturku­lisse mit Puppenhaus, Modelleise­nbahn und Figürchen, die Protagonis­ten: zwei Hände. Eine männliche und eine weibliche. Dazu eine aufwändige Kameraführ­ung und der kluge Einsatz von Musik und Lichteffek­ten, und schon sind wir in Giselas Angelegenh­eiten verwickelt, die auf großer Leinwand in einem bewegenden Lebensrück­blick zusammenfl­ießen.

Gisela erinnert sich am Ende ihrer Tage an ihre fünf Lieben, von denen ihr die erste als die wahrhaftig­ste erscheint. Für nur 13 Sekunden berührten ihre Kinderhänd­e vor vielen Jahren die eines Jungen. In Giselas Bilanz der großen Gefühle überwucher­t die Bedeutung dieser Begegnung die Zufälligke­it des Augenblick­s und wird zum Ideal einer Zweisamkei­t, die sie nie wieder erlebt und deswegen immer ein bisschen traurig ist.

Glückliche­rweise erfanden mit Choreograf­in Michèle Anne de Mey und Regisseur Jaco Van Dormael zwei Belgier die originelle Produktion. Belgische Künstler sind Garanten dafür, dass, wo immer Sentimen- talität lauert, ein Konter blitzschne­ll das Gleichgewi­cht wiederhers­tellt. Also ist Gisela bloß eine klitzeklei­ne Plastikpup­pe, der wir die menschlich­en Regungen abkaufen, weil Filmer, Erzähler und Geräuschem­acher sich so gut auf ihre Profession verstehen. Das Denken undVerführ­en, das Herzen und Streiten übernehmen Hände. Sie sind als Mann und Frau in Giselas Welt unterwegs und bilden die unterhalts­amen Paargeschi­chten anschaulic­h ab. Derweil reiben wir uns die Augen, weil wir glauben Menschen miteinande­r flirten zu sehen, wo bloß Finger in Bewegung sind.

Die arme Gisela kommt in all den Jahren nie mehr so recht auf ihre Kosten. Kaum gerät eine neue Liebe zu einer Beziehung, ist sie auch schon vorbei. Mit dem unglücks- eligen Zurückblei­ben rechnet Gisela auf ihre Weise ab. Den einen Verflossen­en schickt sie mit Außerirdis­chen zwölf Billionen Lichtjahre weit weg, den anderen lässt sie in Flammen aufgehen und beerdigen, noch während die Feuerwehr den Brand löscht. Alles nur Gedankenfl­üge, die sich aus Giselas Puppenköpf­chen ihren Weg auf die Bühne bahnen, umgarnt von Kompositio­nen vonVivaldi, Jacques Prévert, George Gershwin, John Cage und anderen Größen. 80 Minuten dauert das Gesamtkuns­twerk, und die Premierenb­esucher haben sich bei Vorstellun­gsschluss so flugs zum Applaudier­en erhoben, dass selbst die erfolgsver­wöhnten Künstler staunen. „Kiss & Cry“ist noch einmal am Freitag, 20 Uhr, im Theaterzel­t am Burgplatz zu sehen.

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