Toleranz und Wahrheit
Das Erstarken populistischer und nationalistischer Kräfte markiert einen Einschnitt. Der Populismus löst den Pluralismus ab. Vor einigen Jahren hatte die „pluralistische Wende“das Bewusstsein maßgeblich verändert. Es setzte sich der Anspruch durch: „Jede Meinung ist gleichermaßen gültig; die eine Wahrheit gibt es nicht.“Es gab Widerstände gegen den Pluralismus. Aber letztendlich setzte sich die Toleranz an oberste Stelle und bestimmte den allgemeinen Diskurs. Jegliche Meinung durfte gelten und keine Wahrheit über eine andere gestellt werden. Antidiskriminierungsgesetze stärkten die Herr- schaft der Toleranz. Für viele war der Pluralismus die endgültige Befreiung von der Diktatur der Wahrheitsansprüche.
Doch jetzt stolpert die Toleranz über ihre eigenen Füße. Plötzlich werden politische und gesellschaftliche Überzeugungen stark, die nicht in das pluralisti- sche Weltbild passen. Gilt das Gesetz der Toleranz, dass jede Meinung zählt und gleichberechtigt ist, steht man vor dem Problem, wie man mit Meinungen umgeht, die nicht in dieses Weltbild passen. Der Maßstab der Toleranz, jede Wahrheit hat gleichermaßen recht, fällt ihr in den Rücken, wenn populistische Aussagen diesen Maßstab auch für sich in Anspruch nehmen. Wie tolerant darf Toleranz sein? Wie wahr und allgemein gültig ist die Aussage, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gibt? Der Pluralismus hat uns sensibel gemacht, andere Meinungen kennenzulernen und anzuerkennen. Aber es wird deutlich, dass wir all- gemein gültige Werte und Kriterien brauchen, an denen Meinungen und Überzeugungen geprüft werden können. Ansonsten rutschen wir in eine Diktatur der Toleranz. Die Kritik am Pluralismus – „Wenn alles gleiche Gültigkeit hat, ist alles gleichgültig.“– bewahrheiten sich spätestens jetzt. Wir werden nicht umhinkommen, uns der Notwendigkeit von Wahrheit im gleichen Maße zu stellen wie der Notwendigkeit von Toleranz. Auch wenn religiöse Wahrheitsansprüche zu Diktaturen geführt haben, zeigen Religionen dennoch, dass wir Menschen ein Gespür und ein Bedürfnis nach Wahrheit haben. Es würde unserer Zeit guttun, dem Phänomen ehrlich auf die Spur zu gehen, dass wir Menschen Wahrheit brauchen. Die Bibel gibt auf ihre Weise Antwort auf diese Frage. Der Satz „Gott erschuf den Menschen als sein Bild.“(Genesis 1,27) findet ihre Antwort in der Aussage „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“(Johannes 14,6). Denn wenn ein Gott, der die Wahrheit ist, den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat, leuchtet ein, warum der Mensch ohne Wahrheit nicht leben kann und deswegen die Hoffnung auf Wahrheit nie aufgeben sollte.