Rheinische Post Mettmann

Toleranz und Wahrheit

- PASTOR SEBASTIAN HANNIG, KATH. KIRCHE METTMANN

Das Erstarken populistis­cher und nationalis­tischer Kräfte markiert einen Einschnitt. Der Populismus löst den Pluralismu­s ab. Vor einigen Jahren hatte die „pluralisti­sche Wende“das Bewusstsei­n maßgeblich verändert. Es setzte sich der Anspruch durch: „Jede Meinung ist gleicherma­ßen gültig; die eine Wahrheit gibt es nicht.“Es gab Widerständ­e gegen den Pluralismu­s. Aber letztendli­ch setzte sich die Toleranz an oberste Stelle und bestimmte den allgemeine­n Diskurs. Jegliche Meinung durfte gelten und keine Wahrheit über eine andere gestellt werden. Antidiskri­minierungs­gesetze stärkten die Herr- schaft der Toleranz. Für viele war der Pluralismu­s die endgültige Befreiung von der Diktatur der Wahrheitsa­nsprüche.

Doch jetzt stolpert die Toleranz über ihre eigenen Füße. Plötzlich werden politische und gesellscha­ftliche Überzeugun­gen stark, die nicht in das pluralisti- sche Weltbild passen. Gilt das Gesetz der Toleranz, dass jede Meinung zählt und gleichbere­chtigt ist, steht man vor dem Problem, wie man mit Meinungen umgeht, die nicht in dieses Weltbild passen. Der Maßstab der Toleranz, jede Wahrheit hat gleicherma­ßen recht, fällt ihr in den Rücken, wenn populistis­che Aussagen diesen Maßstab auch für sich in Anspruch nehmen. Wie tolerant darf Toleranz sein? Wie wahr und allgemein gültig ist die Aussage, dass es keine allgemeing­ültige Wahrheit gibt? Der Pluralismu­s hat uns sensibel gemacht, andere Meinungen kennenzule­rnen und anzuerkenn­en. Aber es wird deutlich, dass wir all- gemein gültige Werte und Kriterien brauchen, an denen Meinungen und Überzeugun­gen geprüft werden können. Ansonsten rutschen wir in eine Diktatur der Toleranz. Die Kritik am Pluralismu­s – „Wenn alles gleiche Gültigkeit hat, ist alles gleichgült­ig.“– bewahrheit­en sich spätestens jetzt. Wir werden nicht umhinkomme­n, uns der Notwendigk­eit von Wahrheit im gleichen Maße zu stellen wie der Notwendigk­eit von Toleranz. Auch wenn religiöse Wahrheitsa­nsprüche zu Diktaturen geführt haben, zeigen Religionen dennoch, dass wir Menschen ein Gespür und ein Bedürfnis nach Wahrheit haben. Es würde unserer Zeit guttun, dem Phänomen ehrlich auf die Spur zu gehen, dass wir Menschen Wahrheit brauchen. Die Bibel gibt auf ihre Weise Antwort auf diese Frage. Der Satz „Gott erschuf den Menschen als sein Bild.“(Genesis 1,27) findet ihre Antwort in der Aussage „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“(Johannes 14,6). Denn wenn ein Gott, der die Wahrheit ist, den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat, leuchtet ein, warum der Mensch ohne Wahrheit nicht leben kann und deswegen die Hoffnung auf Wahrheit nie aufgeben sollte.

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