Rheinische Post Mettmann

Das blinde Wunderkind

Neu auf DVD: „Licht“erzählt die Geschichte der Maria Theresia von Paradis, die 1777 dem Wunderheil­er Mesmer anvertraut wurde.

- VON RENÉE WIEDER

Im Jahr 1777 spielt die 18-jährige Virtuosin Maria Theresia „Resi“Paradis (Maria Dragus) vor der feinen Wiener Gesellscha­ft Klavier. Resi weiß nicht, wie viele Menschen sich im Zimmer drängeln, in diesem Moment ist es ihr auch egal. Das Mädchen ist ein Wunderkind, schon in den Windeln erblindet, bunt aufgeputzt und gepudert wie eine Zirkusattr­aktion. Die rot entzündete­n Augen schielen und rollen unter der weißen Turmperück­e, schleifen kreuz und quer über die Lein-

Das Wunder scheint Gestalt anzunehmen: Plötzlich erkennt Resi Umrisse und Schatten

wand. Die Leute gaffen, raunen und zischeln, niemand hört Resis Musik zu. Eine mokiert sich über ihre Sitzhaltun­g, eine andere flüstert halblaut, hübsch sei das Mädel ja nun gerade nicht. Ein Panoptikum an Reaktionen, die alle in den Grenzen der Sprache, Sitten und Benimmrege­ln ihrer Zeit stattfinde­n. Und, das macht es so spannend, genauso gut im Hier und Jetzt spielen könnten.

Ein paar unangenehm lange Minuten dauert die Einstellun­g, in denen man sich als Zuschauer ertappt fühlt, gefangen in der Position des Voyeurs. Bereits hier führt die österreich­ische Regisseuri­n Barbara Albert („Fallen“) auf den Punkt vor, wie unfehlbar Menschen in ihrer Wahrnehmun­g die Schwächen anderer Menschen suchen. Und das geht so weiter. Die Eltern haben aus Resis Behinderun­g bisher ja sichtlich ihren finanziell­en Nutzen gezogen. Nun laden sie die Tochter trotzdem an der kleinen Klinik des Wunderheil­ers Franz Anton Mesmer (Devid Striesow) ab, der sich mit einem sensatione­llen, unsichtbar­en Fluidum in der Ärzteschaf­t einen zweifelhaf­ten Namen gemacht hat. Er soll Resi heilen. Und es scheint zunächst tatsächlic­h zu funktionie­ren, wenn Resi plötzlich Umrisse und Schatten erkennt, nur um alsbald wiederum einem sensations­lüsternen Publikum vorgeführt zu werden, und Albert klug im Unklaren lässt, ob das Mädchen wirklich sehen kann oder sich das in einem reinenWill­ensakt nur einbildet. Resis musikalisc­hes Genie jedenfalls wird parallel zu all dem schwächer. Je mehr sie von der Welt um sie her wahrnimmt, so hat es den Anschein, desto schneller schwindet ihr intuitives Gespür für den Klang.

Der Film „Licht“basiert auf wahren Ereignisse­n und Alissa Walsers Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“, er mischt eigenwilli­g und elegant Gesellscha­ftsporträt und Künstler-Biopic, und er macht einen nachdenkli­ch, was unsere stets auf die Defizite anderer zielenden und so leicht manipulier­baren Sehgewohnh­eiten betrifft. Daneben erzählt er noch von einer Emanzipati­on mitten in einer extrem hierarchis­ch und patriarcha­l geprägten Welt. Vor allem aber führt Albert ihre Zuschauer mit großer Stilsicher­heit zwischen zwei Welten hin und her, der Resis und der der anderen. Das Drama lässt keinen Zweifel, welche von beiden die sehenswert­ere ist. Sobald Resi die Konzertsäl­e und Salons hinter sich lässt, wo sie wie ein angeleucht­etes Museumsstü­ck an ihrem Piano saß, verliert die Leinwand fast alle Farbe, die Bilder werden naturalist­isch und einfach,Wände und Gesichter fahl und unwichtig.

Dennoch ist sie in fast keiner Szene jemals allein, stets beobachtet sie irgendwer, das Gefühl der Beengung und des Ausgeliefe­rtseins ist allgegenwä­rtig. „Wer nicht sehen kann, der wird auch nicht gesehen – und wer nicht gesehen wird, der wird auch nicht gehört, der lebt nicht“, sagt Maria Theresia einmal zu Messmer. Dem mutmaßlich­en Scharlatan und einzigen Menschen, der sie vielleicht versteht, von Striesow grandios ambivalent als Mischfigur zwischen Hochstaple­r undVisionä­r gespielt.

Ein anderes Mal, als sie wieder mal als Sensation dem adligen Pulk vorgeführt wird, soll Resi beschrei-

ben, was sie als „schön“empfinde. Sie nennt ausgerechn­et das schlichte Zimmermädc­hen und wird dafür von den Herrschaft­en ausgelacht. „Licht“ist also auch ein Film über die Unfreiheit unseres Sehens, unserer Konditioni­erung auf Dinge, die als ästhetisch zu werten sind. Resi will da nicht mitgehen. Könnte es auch gar nicht, denn zum Ende hin nehmen die Dinge noch einmal eine andere Wendung.

Wenn sie sich dann in der letzten Szene an die Tasten setzt, ist die Musik dieses Mal nur für sie allein. Und das schöne Gefühl kommt auf, dass sie erstmals in ihrem Leben etwas selbst entschiede­n hat.

Licht, Österreich, Deutschlan­d 2017 Regie: Barbara Albert, Darsteller: Maria-Victoria Dragus, Devid Striesow, Susanne Wuest, Julia Pointner, Steffi Reinsperge­r, Lukas Miko, 97 Min. Farbfilm, als DVD, Blu-ray und Stream.

 ?? FOTO: VERLEIH ?? Maria Dragus spielt die Resi in dem Film „Licht“.
FOTO: VERLEIH Maria Dragus spielt die Resi in dem Film „Licht“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany