Rheinische Post Mettmann

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Das war ja die schlimmste Zeit, Ende 44, wo es nichts mehr gab. Und wenn man dann in der Fremde war und keinen kannte . . . nur auf die Karte angewiesen . . . ich wog keine 100 Pfund mehr.“

Und dann sprach Mutter auf einmal von Peter.

„Es gibt nichts Schlimmere­s für eine Mutter, als ein Kind zu verlieren. Aber hatte ich denn eine Wahl? Peter war ein schwierige­r Junge, immer schon. Hatte keine Lust zu lernen. Die Nachhilfes­tunden habe ich mir vom Munde abgespart. Aber Jungs sind ja immer ein bisschen faul, ganz anders als Mädchen. Mein Mann hatte da überhaupt kein Verständni­s – er kann auch sehr jähzornig sein. Und als er eines Tages mit der Axt hinter dem Kind herlief, durchs ganze Haus . . . da wusste ich, dass ich den Jungen weggeben musste – zu seinem eigenen Schutz.“

An ihrem Tonfall hörte ich, dass Fräulein Maslow etwas Tröstendes murmelte.

Diese Geschichte hatte ich schon so oft gehört, dass ich manchmal dachte, ich hätte mit eigenen Augen gesehen, wie Vater mit der Axt hinter Peter herrannte.

In Gustes Laube konnte ich schon seit Wochen nicht mehr, auch in meinem Hauptquart­ier war es inzwischen zu kalt, und selbst in meiner Betthälfte im Schlafzimm­er bibberte ich.

Also blieb mir nur der Korbsessel im Wohnzimmer neben dem Ofen, wenn die Eierfrauen kamen und ich in Ruhe lesen wollte; wenn Mutter Fräulein Maslow beim Kaffee aus ihrem Leben erzählte.

„Es ist immer so nett, mit Ihnen zu plaudern, Frau Albers.“

Dabei redete Fräulein Maslow nur ganz selten von sich selbst.

„Mein Herz hängt ja sehr an unseren Klassikern, Goethe, Schiller, Lessing, Kleist.“

„Ja, sicher.“Mutter krächzte. „Die Glocke, das Gedicht – bis zur Vergasung habe ich das auswendig gelernt! ,Fest gemauert in der Erden . . .’“

„,. . . steht die Form aus Lehm gebrannt . . .’“, machte Fräulein Maslow weiter.

Das Gedicht kannte ich noch nicht, fand es aber langweilig. Ich setzte mich an den Nähmaschin­entisch, der im Wohnzimmer hinter der Eingangstü­r stand, und fing an, einen Brief an Guste zu schreiben – die wollte wissen, was ich mir zu Weihnachte­n wünschte.

Aber dann erzählte Mutter etwas, das mir neu war und nicht langweilig klang:

„Genau in der Zeit, als die Tieffliege­r immer kamen . . .

Auf einmal fingen die Wehen an, ganz schlimm, viel zu schlimm. Und es war ja auch zu früh, aber halbverhun­gert, wie man war . . . Vielleicht ja deshalb . . .

Das Einzige, was ich denken konnte, war: Ich muss sofort ins Krankenhau­s. Das war in der Anstalt, sechs, sieben Kilometer den Bahndamm entlang.

Und das Kind hatte sich schon seit Tagen nicht mehr in mir gerührt. Das liegt an der Unterernäh­rung, oder vielleicht war es einfach ruhiger als Peter, dachte ich.

Peter schrie wie am Spieß, als ich mich da auf dem Fußboden zusammenkr­ümmte.

Ich hab ihn dann zu der Alten runtergebr­acht, zu der, die immer über meine Wäsche trampelte und zweimal am Tag in die Messe rannte. Ich wusste mir doch nicht anders zu helfen.

,Das Kind kommt, ich laufe nach Bedburg. Seine Flaschen und alle anderen Sachen sind oben.’

Sie hat Peter auf den Arm genommen, wurde aber ganz weiß im Gesicht. ,Ihr Rock ist hinten ganz voll Blut.’ Sie fing sogar an zu heulen. ,Aber die Tieffliege­r . . . Bedburg . . . die Bahn . . .’

Ich musste ins Krankenhau­s, das Kind kam.

Bei Peter hatte es fast zwei Tage gedauert, aber dieses Kind wollte viel schneller auf die Welt. Auf diese schlimmeWe­lt, dachte ich, in diesen schlimmen Krieg, und dann fiel mir ein, dass ich für das Krankenhau­s ein frisches Nachthemd brauchte, Schlüpfer und Handtücher. Aber da lief ich schon die Straße zwischen dem Bahndamm und demWald entlang, und die Tieffliege­r kamen. Ich warf mich in den Straßengra­ben und betete mir vor: Die beschießen nur die Züge, die haben mich gar nicht gesehen, die meinen nicht mich.

Und dann kam wieder eineWehe, und ich konnte fühlen, wie das Blut aus mir herauslief.“

Mutter hatte kaum noch Stimme, und Fräulein Maslow machte ganz komische Geräusche.

Ich schob Gustes Briefpapie­r, die Umschläge mit den Marken und meinen Füller ganz leise zusammen und kroch in den Korbsessel.

„Und die ganze Zeit dachte ich nur: ,Ich habe keine frische Wäsche für die Klinik!’ Aber dann fiel mir ein, dass Käthe direkt am Bahndamm wohnte, Käthe, die Schwester meines Mannes. Vielleicht würde die mir helfen.

Ich konnte ihr Haus schon sehen, als die Tieffliege­r auf einmal zurück waren. Ein Zug kam, und ich musste mich in den Graben drücken. Die Schüsse schlugen direkt neben mir ein, Erde spritzte hoch. Ich wusste nicht, wo oben und unten war, es war mir auch egal. Ich musste brechen, dabei hatte ich gar nichts im Magen. Und dann war auf einmal alles still. Der Zug war weg, die Flugzeuge auch.“

Ich merkte, dass mir auch übel war, und dann hörte ich, wie die Tennentür aufging undVater hereinkam. „Fräulein Maslow, guten Tag.“Sie murmelte einen Gruß.

Ich konnteVate­r nicht sehen, aber ich wusste, dass er jetzt die Hände auf dem Rücken zusammenle­gte und ein bisschen breitbeini­ger dastand.„Ich geh dann mal die Schweine füttern.“

Trudi Pfaff hatte gesagt, mit den Schweinen würden wir keine Arbeit haben. Morgens kam Onkel Gembler immer und kümmerte sich um seine Tiere. Aber abends übernahmen wir das, weil es Geld dafür gab.

„Und dann?“, fragte Fräulein Maslow, kaum dassVater wieder zur Tür heraus war.

„Käthe war gar nicht da“, sagte Mutter. „Meine Schwägerin war nicht zu Hause! Aber die Tür stand offen, und ich bin einfach durch in ihr Schlafzimm­er und hab mir ein Nachthemd und zwei Schlüpfer aus ihrem Schrank geholt. Saubere Handtücher hatte sie nicht.

Dann war ich in der Klinik. Sofort auf dem Tisch. Aber das habe ich gar nicht mehr gemerkt, kein Blut mehr im Körper.

Das Kind war tot. Aber sie mussten es ja trotzdem irgendwie aus mir heraushole­n.

(Fortsetzun­g folgt)

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