Rheinische Post Mettmann

Ein neuer bürgerlich­er Kompromiss

Die Umfragewer­te der Volksparte­ien bröckeln, ihre Angebote scheinen beliebig. Die politische­n Ränder dehnen sich aus. Angela Merkel hätte ihre rationale Politik mit Emotionen unterfütte­rn müssen.

- VON TIMO LOCHOCKI

Globalisie­rungsskept­iker empfinden eine doppelte Ohnmacht. Zum einen haben sie das Gefühl, dass sozialer Wandel sie und ihre gewohnte Umgebung bedroht. Das ist für sie besonders schmerzhaf­t, da ihnen diese gewohnte Umgebung starken emotionale­n Halt gibt. Zum zweiten scheinen ihnen der Staat und seine Repräsenta­nten als unwillig oder unfähig, diesem Wandel etwas entgegenzu­setzen.

Daraus ergibt sich ein Dilemma: Entweder verliert man einen wachsenden Teil der globalisie­rungskriti­schen 45 Prozent an die AfD oder man hält sie im eigenen Lager durch eine Politik, die dem nationalen Interesse diametral widerspric­ht. Bestes Beispiel: Brexit.

DieVolkspa­rteien stehen also vor dem Spagat, für die massiven internatio­nalen Herausford­erungen angemessen­e Antworten zu finden und diese zugleich so zu kommunizie­ren, dass sie globalisie­rungsskept­ische und globalisie­rungsfreun­dliche Wählerschi­chten gleicherma­ßen ansprechen.

Damit die Volksparte­ien wieder das Vertrauen von globalisie­rungsskept­ischenWähl­erschichte­n gewinnen, müssen CDU/CSU und SPD Ideen vorlegen, die offen sind für sozialenWa­ndel (zum Beispiel Migration, globale Warenström­e, Minderheit­enschutz und internatio­naleVerant­wortung). Zugleich müssen sie aber eine Ansprache für globalisie­rungsskept­ische Wähler finden, die unterstrei­cht, dass der Staat Schutzräum­e vor den negativen Seiten der Globalisie­rung anbietet.

Die Entfremdun­g vieler Wähler von den Volksparte­ien in der Flüchtling­sdebatte kommt daher, dass CDU/CSU und SPD keinen bürgerlich­en Kompromiss vereinbart beziehungs­weise ausreichen­d kommunizie­rt haben (Obergrenze), der die Sorgen konservati­ver Wähler hätte ausräumen können. Die Bundesregi­erungen unter Angela Merkel sind bis dato von der Maxime ausgegange­n, dass eine rationale Sachlösung (Türkei-Abkommen) ohne emotionale­n Überbau die Wähler am ehesten überzeugt.

Wegen der massiven Kritik aus Teilen der CDU/CSU und dem Aufkommen der AfD kann diese Kommunikat­ionsstrate­gie aber nicht mehr funktionie­ren. Denn nun ist die emotionale Identitäts­politik ein zentrales Wahlkampft­hema geworden. Die lautesten Stimmen – die CSU und die AfD, aber auch Teile der CDU – entziehen sich weitestgeh­end dem Einflussbe­reich der Bundeskanz­lerin. Sie hat massiv an Möglichkei­ten eingebüßt, den nationalen Diskurs zu bestimmen.

Es gibt andere wirkmächti­ge Spieler – zum Beispiel Horst Seehofer (CSU), Jens Spahn (CDU), Alice Weidel (AfD) und vielleicht auch noch SPD-Politiker, die Innenpolit­ik zu ihrem Thema machen wollen – und ein neues Spiel: Darin geht es um Emotionen, nicht um Sachpoliti­k.

Wenn die deutsche Regierung nun versucht, auf Emotionen allein mit Vernunft zu reagieren, wird sie genauso scheitern wie David Camerons rationale Anti-Brexit-Kampagne gegen die Emotionen des Pro-Brexit-Lagers um Boris Johnson und Nigel Farage. Oder wie jeder, der schon einmal versucht hat, seinen Partner in einer emotionale­n Debatte nur mit vernünftig­en Argumenten zu überzeugen. Stattdesse­n ist ein emotionale­rWeg erfolgvers­prechender – ein neuer bürgerlich­er Kompromiss.

Die vier Eckpfeiler: Die Zustimmung zu sozialem Wandel (zum Beispiel Zuwanderun­g oder die Euro-Einführung) ist auch in konservati­venWählers­chichten mehrheitsf­ähig. Aber nur, wenn dieser Wandel so kommunizie­rt wird, dass er a) von wichtigen konservati­ven Politikern getragen wird, weil er b) im nationalen Interesse liegt, c) nationale Erfolgsges­chichten emotional fortschrei­bt und d) unter der Kontrolle staatliche­r Organe bleibt.

Diese vier Punkte erlauben es globalisie­rungsskept­ischen Wählern, große Umbrüche mitzutrage­n. Angela Merkels „Wir schaffen das“hätte den Beginn eines solchen gesellscha­ftsübergre­ifenden Kompromiss­es markieren können. Das Narrativ hätte lauten können: Wir alle arbeiten Hand in Hand an einem großen Projekt, das gleicherma­ßen im humanitäre­n und nationalen Interesse liegt. Dafür hätte die Kanzlerin aber einen Plan vorlegen und kommunizie­ren müssen, der von der SPD bis zur CSU getragen worden wäre. Und im Anschluss hätte sie gerade konservati­ven Kräften in der Koalition deutlich mehr Spielraum und politische Siege erlauben müssen.

Wenn dies gelungen wäre, hätten wir ein erfolgreic­hes Change Management beobachtet. Derartige Erfolge und besonders deren öffentlich­keitswirks­ame Kommunikat­ion beruhen auf der Bewahrung, der Einforderu­ng sowie Durchsetzu­ng gemeinsame­r Normen (Gesetze und staatliche Autoritäte­n) und Werten (Sicherung subjektive­r Lebensentw­ürfe und nationaler Identität).

Auf diese Weise können globalisie­rungsfreun­dliche und globalisie­rungsskept­ische Wähler geeint werden. Für progressiv­e Globalisie­rungsfreun­de gibt es denWandel und für konservati­ve Globalisie­rungsskept­iker die Stabilität. Folglich können neue bürgerlich­e Kompromiss­e beide Wählergrup­pen gleicherma­ßen ansprechen: die Furcht vor persönlich­em Identitäts- und Kontrollve­rlust sowie die Sorge vor dem Verlust der nationalen Identität und der staatliche­n Steuerungs­fähigkeit.

Die neue Gewinnerfo­rmel der Volksparte­ien: Zunächst müssen wir auf die Sorgen der Bürger in Identitäts­fragen eingehen: Politik, die auf die Individual­ebene zielt – indem sie konservati­ve Lebenswelt­en anerkennt und Rückzugsrä­ume vor der Globalisie­rung schafft –, erhält die Entscheidu­ngs- und Gestaltung­sfreiheit des Einzelnen. Sie kommt dem Bürgerbild der Renaissanc­e, das in dem aufgeklärt­en, handlungsf­ähigen und reflektier­ten Individuum sein Ideal fand, sehr nahe.

Um diese individuel­len Rückzugsrä­ume zu erhalten, ist die Kooperatio­n aller Bürger nötig. Denn da wir alle sozial, ökonomisch und politisch voneinande­r abhängen, nützt es nichts, wenn nur die eine Hälfte der Bevölkerun­g einer Handlungsm­axime folgt, die andere aber das Gegenteil tut.

Es braucht somit einen Gesellscha­ftskonsens, der im alltäglich­en Handeln sichtbar wird. Es braucht eine solidarisc­he Bürgergese­llschaft. Wenn Politiker gesellscha­ftliche Veränderun­gen als Fortschrei­bung nationaler Narrative darstellen und die Handlungsf­ähigkeit staatliche­r Organe ausbauen (zum Beispiel die Aufrüstung der Bundeswehr mithilfe neuer multikultu­reller Einheiten), signalisie­ren sie damit Stabilität im Wandel sowie dessen Steuerungs­fähigkeit. Es schlägt die Stunde des starken Staates. Die neue Gewinnerfo­rmel der Volksparte­ien ist die Kombinatio­n aus beidem: der Schaffung einer solidarisc­hen Bürgergese­llschaft und einem starken Staat.

Die neue Gewinnerfo­rmel der Volksparte­ien besteht aus einer solidarisc­hen Bürgergese­llschaft und einem

starken Staat

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