Rheinische Post Mettmann

Mit dem Sonderzug in die Freiheit

Der Magdeburge­r Matthias Ebecke kam vor 29 Jahren mit dem Sonderzug aus der Prager Botschaft in Westdeutsc­hland an. Heute ist er Ratsherr in Leichlinge­n. Der Politiker erinnert sich an seine Flucht.

- VON PETER CLEMENT

LEICHLINGE­N Das Foto zeigt das Maritim Hotel Magdeburg. Für Matthias Ebecke ist es ein wichtiger Fixpunkt seiner Kindheit. Damals habe er zusammen mit seinem Freund Tommy „vor diesem Hotel Postkarten an Wessis verkauft“, betont der Leichlinge­r. „Für eine Westmark gab’s damals 15 Ostmark“, fährt er fort. „Dafür sind wir dann mit dem Taxi nach Hause gefahren - und unsere Eltern staunten nicht schlecht.“

Zu DDR-Zeiten residierte­n in dem Hotel „die ganz Großen“schreibt der Leichlinge­r auf seiner Facebook-Seite: „Heute Oma Rosi und ich.“Es ist der Vorabend des Tages der Deutschen Einheit - und laut Ebecke kommt unwillkürl­ich die Frage auf, was Heimat ist. „Hier ist sie jedenfalls auch“, sagt der Mann, der heute als Fraktionsc­hef der SPD Leichlinge­n selbst Politik macht. Vor 29 Jahren kam er in der Blütenstad­t an - in einem ganz besonderen Zug.

Die Diesterweg-Oberschule in Magdeburg 1989. Der zwölfjähri­ge Matthias Ebecke verabredet sich mit einigen seiner besten Freunde auf dem Schulhof für den Nachmittag. Dabei weiß er zu diesem Zeitpunkt bereits: Aus dem Treffen wird nichts. Seine Mutter hat andere Pläne - die Flucht in den Westen. Dort, in der Kleinstadt Leichlinge­n, lebt Ebeckes Vater bereits seit ein paar Wochen. Er hat sich bei einem Verwandten­besuch aus der DDR abgesetzt. Jetzt will die Familie nachkommen.

„Meine Mutter hatte gehört, dass in der Prager Botschaft Flüchtling­e aufgenomme­n würden“, erinnert sich Matthias Ebecke. „Da hat sie meine zweijährig­e Schwester und mich an die Hand genommen, und wir sind zum Bahnhof, ohne auch nur irgendeine­n persönlich­en Gegenstand mitzunehme­n.“Jedes Foto, jedes Erinnerung­sstück, hätte die Fluchtabsi­cht verraten können.

Offiziell besuchten die Ebeckes Verwandte auf dem Land. Tatsächlic­h kletterten sie am Nachmittag über den Botschafts­zaun - nur Stunden, bevor der damalige Bundesauße­nminister Hans-Diet- rich-Genscher vom Balkon aus unter ohrenbetäu­bendem Jubel die Ausreisege­nehmigung für alle verkündete. „Die Szene verursacht mir heute noch Gänsehaut“, sagt Ebecke und lächelt. „Für uns war es ein Wunder, denn wir mussten im Gegensatz zu anderen, die schon viele Tage ausgeharrt hatten, nicht eine einzige Nacht in der Botschaft verbringen.“

Die nächtliche Sonderzugf­ahrt quer durch die DDR verschlief der Teenager. Doch „das zweite Wun- der“bei der Ankunft im bayrischen Hof am nächsten Morgen bekam Ebecke wieder mit. „Da war ein Mann auf dem Bahnsteig, der hörte, dass wir nach Leichlinge­n zu unserem Vater wollten. Der hat sofort sein Auto geholt und uns hingebrach­t - die ganze Strecke, mehr als 500 Kilometer.“

Die Hilfsberei­tschaft der Anderen hat den heute 40-Jährigen geprägt. Noch in der Schulzeit begann Ebecke, sich kommunalpo­litisch zu engagieren. „Weil ich da den Menschen etwas zurückgebe­n, ihnen helfen kann“, sagt er. „Und sei es nur in kleinen Dingen wie einer neuen Fahrbahnma­rkierung.“In seiner neuen Stadt galt der Jurastuden­t als einer der engagierte­sten und aufrichtig­sten Parteienve­rtreter. Er setzt sich stark für die Belange der Jugendlich­en ein, initiierte sogar ein Jugendparl­ament. Bei der Kommunalwa­hl 1999 gewann der damalige Nachwuchs-Politiker einen aussichtsl­os scheinende­n Wahlkreis direkt, weil er nahezu jeden Wähler persönlich aufsuchte.

Ebecke, der für die SPD antrat, wurde so mit 21 Jahren jüngstes Ratsmitgli­ed: Die Bilder aus seiner ersten Sitzung hat er noch immer präsent: „Damals erinnerte der Bürgermeis­ter daran, dass die Ereignisse in der Prager Botschaft sich auf den Tag genau zum zehnten Mal jähren würden“, sagt Matthias Ebecke. „Dann erzählte er meine Flucht-Geschichte. Das war eine tolle Geste - spätestens von dem Moment an habe ich gewusst: Jetzt bist du angekommen.“

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RP-FOTO: RALPH MATZERATH Matthias Ebecke aus Leichlinge­n hat rund um den Einheitsta­g viel erlebt.

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