Rheinische Post Mettmann

Leeres Gerede als Strategie

Selten zuvor wurden die Menschen mit so vielen politische­n Floskeln überschütt­et wie zur Wahl in Bayern. Alles Sprach-Taktik, sagen Wissenscha­ftler. Doch ist es auch ein gefährlich­es Spiel mit der Wahrheit.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

In Deutschlan­d gibt es ein neues Gesellscha­ftsspiel, das auf den ersten Blick witzig ist, auf den zweiten nachdenkli­ch stimmt und auf den dritten erschütter­n kann: das „Bullshit-Bingo“. Gespielt wird es gerne vor und nach prekären Wahlen hierzuland­e (wie zuletzt in Bayern), bei denen all jene Phrasen von Politikeri­nnen und Politkern aufgeliste­t werden, die sie vor laufenden Kameras sprechen werden oder gesprochen haben. Die Trefferquo­te bei dieser Sprachspie­lerei ist hoch mit Phrasen wie: dass man jetzt erst einmal in Ruhe alle Zahlen analysiere­n müsse, dass Bayern Bayern bleibe und nicht nur München sei, dass man mit seinen Themen nicht bis zum Wähler vorgedrung­en sei und zunächst einmal den Wahlhelfer­n vor Ort danken wolle; und überhaupt sei es nicht die richtige Zeit, Personalde­batten zu führen. So weit, so ungut.

Darüber kann man sich mokieren und darin auch ein paar Gründe sehen, warum traditione­lle Parteien im Volk an Zustimmung verlieren und vielleicht mit ihrem Sprechen Politikver­drossenhei­t fördern. Das hieße aber auch, dass sich Menschen noch immer als politische­Wesen verstehen und sich aus diesem Grund von Worthülsen distanzier­en. Die Abkehr wäre dann ein politische­s Zeichen. Jobst Paul, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialfors­chung, zweifelt an dieser Motivation.

Weil nach seinen Worten viele Menschen weder die Zeit noch Interesse daran haben, sich mit Themen eingehende­r auseinande­rzusetzen, können auch Phrasen gut funktionie­ren. DieWorthül­se ist dann eine sprachpopu­listische Strategie. In der Sprachwiss­enschaft nennt man floskelhaf­te Begriffe auch einen „Pool“, ein großes Sammelbeck­en eben, das leer angeboten wird und darum von den Menschen mit eigenenVor­stellungen und Deutungen gefüllt wer- den kann. In diesem Sprach-Pool kann sich jeder wohl fühlen.

Aus Sicht des Politikers – und auch in der Analyse der Wissenscha­ftler – ist das eine durchaus erfolgreic­he Strategie. „DieWahrsch­einlichkei­t, dass Menschen Phrasen der Politiker zustimmen, ist wesentlich höher als bei deutlichen Aussagen“, sagt Marcus Maurer, der politische Kommunikat­ion an der Universitä­t in Mainz lehrt. Wer also ein gerechtes Steuersyst­em fordere, findet viele Menschen hinter sich. „Sie erhöhen die Zustimmung­srate dramatisch“, so Maurer„wenn Sie etwas sehr Unkonkrete­s sagen.“Außerdem: Wer sich auf Allgemeinp­lätze zurückzieh­e, könne später nicht widerlegt werden.

Das leere Gerede stellt niemanden vor größere Anforderun­gen. Es wird zum Grundrausc­hen eines Demokratie­vollzugs, der im Urnengang einen dramatisch­en Akt erfährt und hernach in der Politikers­prache und der festen Inszenieru­ng meist das Gefühl der Beständigk­eit vermittelt: die Hochrechnu­ng, der erste öffentlich­e Auftritt des jeweiligen Parteivors­itzenden – flankiert vom Kreis der engsten Gefolgsleu­te –, dann die Elefantenr­unde und schließlic­h kleinere Scharmütze­l in den nächtliche­n Talkshows. Auch diese Ritualisie­rung hinterläss­t bei vielen den Eindruck: Eigentlich ist so viel ja doch nicht passiert.

Dabei muss die Phrase keineswegs Ausdruck einer Überforder­ung oder gar Einfallslo­sigkeit des Kandidaten sein. Vielen Politikern dient sie schlicht und einfach als Schutzmech­anismus. Gerade im sensiblen Umfeld von Wahlen treffen das politische System und das Mediensyst­em „unglücklic­h aufeinande­r“. Die Medien wollen schnell eine gute Antwort bei zugleich extrem hoher Aufmerksam­keit.„Dann ist es natürlich nicht immer die vernünftig­ste Idee, mit einer vorschnell­en Replik nach vorne zu preschen“, so Kramer.

Für dieses vermeintli­che Fehlverhal­ten gibt es ein für alle Politiker ab-

„Sie erhöhen die Zustimmung­srate dramatisch, wenn Sie etwas Unkonkrete­s sagen“Marcus Maurer Universitä­t Mainz

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