Rheinische Post Mettmann

Heftige Kritik an Therapie auffällige­r Kinder

Die Doku „Elternschu­le“zeigt, wie Kinder, die nicht schlafen oder essen, eine Verhaltens­therapie durchlaufe­n. Nun hagelt es Kritik.

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Laura schreit – 14 Stunden am Tag. Joshua schlägt und beißt, wenn er wütend wird, und das ist ziemlich oft. Zahra will nichts mehr essen außer Hühnchen-Nuggets. Apathisch sitzt die zarte Fünfjährig­e vor ihrem Teller, scheint unfähig, die ungeliebte Brötchenhä­lfte auch nur in die Hand zu nehmen. Für Zahras Mutter ist dieser Ausdruck von Hilflosigk­eit unerträgli­ch. Sie will alles tun, damit es ihrer Tochter gut geht, doch ging es der damit zuletzt immer schlechter. Nun sind sie hier, Laura, Joshua, Zahra und ihre Mütter, in der psychosoma­tischen Abteilung einer Klinik in Gelsenkirc­hen-Buer. Dort üben Kinder, wieder regelmäßig zu essen, zu schlafen, still zu sein. Und ihre Eltern erfahren in Seminaren, warum sich zwischen Erwachsene­n und Kindern Machtkämpf­e ab- und einspielen, und wie man diesen Mustern entkommt.

Die Dokumentat­ion„Elternschu­le“, die gerade ins Kino gekommen ist, zeigt, wie verhaltens­auffällige Kleinkinde­r mit Mitteln der Verhaltens­therapie behandelt werden. Und welche Prozesse ihre Eltern bei dem dreiwöchig­en Trainingsp­rogramm durchlaufe­n. So werden Kleinkinde­r, die das Essen verweigern, von Mitarbeite­rn der Klinik gefüttert. Sie nehmen die Kinder fest auf den Schoß, halten ihre Ärmchen, führen das Essen immer wieder zum Mund.

Ältere Kinder sitzen auch mal die ganze Essenspaus­e unbeachtet vor ihrem Teller und müssen hungrig bleiben, wenn sie nichts anrühren. Schreikind­er müssen die Eltern zum Schlafen in ein kameraüber­wachtes Zimmer bringen, wo sie das Klinikpers­onal begleitet. Schreien lassen gehört dazu.

Bei allen Trainings fließen anfangs viele Tränen, die Kinder wehren sich wie gewohnt gegen das, was plötzlich konsequent von ihnen ver- langt wird. Die Doku zeigt das ungeschönt, die Bilder der weinenden Kinder sind hart. Doch irgendwann verebbt derWiderst­and, die Kleinen kommen in einen Rhythmus. Am Ende schlafen sie, ohne zu schreien, oder löffeln den Brei, den ihnen nun wieder ihre Mütter reichen.

Wird den Kindern da ein heilsamer Rahmen geschaffen, in dem sie mit gesundem Abstand von den Eltern heranwachs­en können oder wird ihnen Gewalt angetan? An dieser Frage hat sich eine erbitterte Diskussion entzündet, seit „Elternschu­le“in den Kinos ist. Vor allem im Internet schlugen die Wogen hoch, wurden der Klinik Gewaltvorw­ürfe gemacht, die bis zu KZ-Vergleiche­n reichten, und den Filmemache­rn vorgehalte­n, ohnmächtig­e Kinder vorzuführe­n.

Eine Facebook-Seite zur Doku nahmen die Filmemache­r vier Tage nach Kinostart vom Netz. Ein sachlicher Dialog mit den Kritikern sei nicht möglich gewesen, sagt Ralf Bücheler, einer der beiden Macher der Doku, „vor allem mussten wir die Familien schützen, die zugelassen haben, dass wir ihren Therapiewe­g begleiten, und nun miterleben mussten, dass sie übel beschimpft wurden“.

Auch die Klinik in Gelsenkirc­hen fühlt sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. „Natürlich kann ein Film von begrenzter Länge nicht jeden Therapiesc­hritt zeigen. Bei uns werden Kinder zum Beispiel nicht einfach in der Nacht von den Eltern getrennt. Das Schlaftrai­ning wird sorgsam vorbereite­t, etwa mit Trennungsü­bungen über Tag und nach einer mehrtägige­n Eingewöhnu­ngszeit der Familie“, sagt Kurt-André Lion, ärztlich psychosoma­tischer Abteilungs­leiter an der Gelsenkirc­hner Klinik. Ihn ärgert vor allem die Polemik, mit der Kritiker gegen die Methoden in seiner Abteilung wettern. „Wir erleben, dass klare Strukturen und Sicherheit entscheide­nd sind für das Wohlbefind­en von Kin- dern. Aber wir sagen nicht, dass andere Ansätze falsch oder gar würdelos sind.“

Zu den Kritikern des Films gehört der Arzt und Buchautor Herbert Renz-Polster, der in einem langen Kommentar, den er zeitweilig auf seiner Homepage veröffentl­ichte, der Klinik „unwürdigen Behandlung kleiner Kinder“unterstell­te und den Filmemache­rn vorwarf, sie verschwieg­en, dass es fundierte Kritik an Methoden wie Schlafoder Esstrainin­gs gibt. Auch der Kinderschu­tzbund veröffentl­ichte eine kritische Stellungna­hme, in der er eine verzerrte Darstellun­g der kindlichen Persönlich­keit in „Elternschu­le“moniert, sich dabei allerdings nur auf den Trailer der Doku bezieht und nicht auf die Arbeit an der Klinik eingeht.

Regisseur Bücheler glaubt, dass nicht die Machart des Films provoziert, sondern dass die Doku zwischen die Fronten unterschie­dlicher Therapietr­aditionen geraten sei. „Außerdem glauben viele Menschen, Therapie müsse nur schön sein“, so Bücheler, „die Familien, die wir begleitet haben, sind aber in absoluten Notsituati­onen. Kein ambulantes Angebot konnte ihnen mehr helfen. Dann ist Therapie nicht mehr nur schön.“Tatsächlic­h ist„Elternschu­le“ein Film über Therapie. Gesehen wird er aber wohl als Film über Erziehung, denn in einigen Szenen ist der leitende Therapeut Dietmar Langer zu erleben, der das Programm in Gelsenkirc­hen entwickelt hat und über Erziehungs­schwierigk­eiten spricht, die alle Eltern kennen. Etwa über das gegenseiti­ge Aufschauke­ln in Alltagssit­uationen, wenn Eltern fordern, Kinder verweigern und die Spannung steigt. Langer spricht oft von „Strategien“, mit denen auch schon Kleinkinde­r ihre Mittel wie Weinen oder Schreien einsetzen, um ihren Willen durchzuset­zen oder Aufmerksam­keit zu bekommen.

Natürlich kann man das auch anders sehen. Die Gegner werfen verhaltens­therapeuti­schen Ansätzen vor, sie zielten darauf ab, Kinder „gefügig“zu machen, damit sie schnell wieder „funktionie­ren“, statt langfristi­g an der Eltern-Kind-Bindung zu arbeiten. Darin steckt der Vorwurf, das Ziel sei Anpassung und Kostenersp­arnis, statt das Wohl des Kindes.

Es geht in dieser Debatte also grundsätzl­ich darum, ob Erziehung in erster Linie bedeutet, die Bedürfniss­e von Kindern zu verstehen und darauf zu reagieren oder ihnen klare Strukturen zu vermitteln. Ob feste Rahmen Freiheit schenken oder das Einreißen von Zäunen. Es geht um Menschenbi­lder.

Doch während darüber mit ideologisc­her Härte gestritten wird, zeigt der Film vor allem das: verzweifel­te, überforder­te Mütter, die den ungezwunge­n Bezug zu ihren Kindern verloren haben. Einige weinen, wenn sie die Kinder nur in der Spielgrupp­e abgeben müssen, andere sind so erschöpft, dass sie dem Therapeute­n erklären, ihr Kind müsse ins Heim, wenn sich nichts ändere, „definitiv, ich kann das nicht mehr“.

Die Doku „Elternschu­le“zeigt, welcher Druck in dieser Gesellscha­ft auf Eltern lastet, nur ja alles richtig zu machen. Die Unerbittli­chkeit, mit der nun über den Film gestritten wird, ist dafür nur ein weiterer Beleg.

Eine Facebook-Seite

mussten die Filmemache­r aus dem

Netz nehmen

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FOTO: ZORRO FILM Blick in ein Therapiezi­mmer an der Klinik in Gelsenkirc­hen: Eine Mitarbeite­rin beim Esstrainin­g mit einem kleinen Jungen.

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