Die klaren Kanten des Ruhrgebiets
ESSEN Albert Renger-Patzsch war der künstlerische Großvater von Gursky, Ruff, Struth und allen anderen, die man der weltweit geachteten Düsseldorfer Fotoschule zurechnet. Denn ihre Lehrer Bernd und Hilla Becher gaben weiter, was sie sich von der Fotografie der Neuen Sachlichkeit abgeguckt, allerdings auch weiter entwickelt hatten. Wie Renger-Patzsch (1897-1966) waren sie im Ruhrgebiet unterwegs, wie ihm ging es ihnen um Strukturen und Dokumentation. Im Ruhr-Museum auf der Essener Zeche Zollverein sind jetzt erstmals umfassend die Ruhrgebiets-Fotografien von Renger-Patzsch zu sehen.
Vergleicht man Renger-Patzschs Ruhrgebietsansichten mit denen anderer Fotografen dieses Genres, wird man feststellen: Er war der größte Künstler, derjenige, der seine schwarz-weißen Fotografien anhand unsichtbarer Linien streng komponierte und dadurch das Abbild einer verstandesgebundenen Moderne schuf. Seine Landschaften zeigen oft den unmerklichen Übergang von Feldern und Wiesen zu einer um sich greifenden Industriearchitektur, und wo er Produktionsgebäude abbildet, betont er deren überlegte geometrische Anordnung. Die Ruhrgebietslandschaften, die Renger-Patzsch als sein größtes freies Projekt konzipiert hatte, füllen den Hauptraum der Ausstellung. Typisch ist jene Aufnahme aus Essen-Stoppenberg, ganz in der Nähe des heutigen Ruhr-Museums, die sich in drei horizontale Flächen gliedern lässt: vorn Brachland mit einer im rechten Winkel dazu aufragenden Laterne, in der Mitte links Mietskasernen und rechts ein geducktes Bergarbeiterwohnhaus vom Anfang desselben Jahrhunderts. In dieser Fotografie herrscht Ordnung, sie hat eine Aussage – und ist fast menschenleer wie die meisten Fotografien von Renger-Patzsch.
Sein Auge bevorzugt die Einrichtung eines neuen Schienenstrangs mit einer Probe fahrenden Dampflokomotive, Bergmannskleidung, die auf einer Stoppelwiese hinter einer Siedlung an der Leine hängt, Zechentürme, Förderbänder und nur selten ein Motiv wie „Kupferhütte an der Rheinfront“aus Duisburg-Hochfeld: Vor Schiffen und riesigen Ladekränen blicken zwei Männer mit ihren Angelruten geduldig auf den Strom.
Selbst auf solchen menschelnden Fotografien achtet Renger-Patzsch auf Geometrie. Wiederum ist das Bild waagerecht dreigeteilt: vorn die Fläche, auf der sich die Angler befinden, in der Mitte die Hafenanlage mit ihren parallel zur Bildkante verlaufenden Linien und den rechtwinklig aufragenden Schornsteinen im Hintergrund, oben der Himmel, in den die Schlote ihren Qualm blasen. Strenger wirkt Renger-Patzsch nur da, wo er ausschließlich Technik ins Bild setzt, etwa in einer Fotografie von Fördergerüst und Bandbrücke der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-Horst.
Die Auftragsarbeiten zeigen Renger-Patzsch von anderen Seiten, auch als Porträtist. Doch auch diese Fotografien wirken kühl und sachlich, ähnlich wie die Porträtmalerei der Neuen Sachlichkeit, ob nun der Industrielle Otto Stinnes, der Kunstsammler Karl-Ernst Osthaus oder der Justitiar der Rheinischen Stahlwerke in Essen, Gustav Heinemann, in die Kamera blickt. Renger-Patzsch konnte nicht ahnen, dass Heinemann dereinst Bundespräsident würde, und er hat es auch nicht mehr erlebt.
Da Renger-Patzsch zeitweise Hausfotograf des Museums Folkwang war, enthält die Ausstellung ebenso Beispiele dieser Kunst: sowohl Abbildungen einzelner Werke als auch Raumeindrücke – selbstverständlich ohne Betrachter.
Renger-Patzsch konnte das„Dritte Reich“hindurch arbeiten. Daher kam immer wieder die Frage auf, ob er ein Mitläufer gewesen sei. Leicht ist das nicht zu beantworten. Seine kühl-sachliche Fotografie lief den Kunstvorstellungen der Nationalsozialisten zumindest nicht zuwider, seine politische Haltung war seit je konservativ, er stand in Kontakt zu Ernst Jünger ebenso wie zu Wirtschaftskapitänen und leistete keinen politischen Widerstand gegen das NS-Regime.
Von Anfang an hatte er sich nicht als Experimentator verstanden, sondern als einer, der lediglich dokumentiert. So lassen sich seine Industriefotografien lesen, doch könnte man sie auch als eine Bewunderung der vermeintlichen Leistungen verstehen, die das Hitler-Reich hervorgebracht hatte.
Die Essener Schau lässt die Fotografien für sich sprechen. Da Renger-Patzsch in Serien arbeitete, hängen oft ähnliche Motive nebeneinander. Das lässt ein wenig ermüden. Staunen kann man jedoch über einen Fotografen, der an seinen früh gefundenen künstlerischen Überzeugungen bis zuletzt festgehalten hat und durch seine Enkelschüler bis in die Gegenwart wirkt.
Info Bis zum 3. Februar 2019; Zeche Zollverein, Gelsenkirchener Straße 181, Essen; täglich 10-18 Uhr.