Rheinische Post Mettmann

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Sie trat so fest in die Pedale, dass ich kaum hinterherk­am. Dr. von Güstrows Praxis war in einem alten Backsteinh­aus, das unheimlich aussah.

Mutter lehnte ihr Fahrrad an die Wand neben der Eingangstr­eppe, fünf Stufen.

„Jetzt mach!“Sie fuhr sich übers Haar und kniff sich in die Wangen.

Vor der Treppe, halb auf der Straße stand Dr. von Güstrows englischer Sportwagen.

Der stand immer halb auf der Straße, ich kam jeden Tag daran vorbei, wenn ich zur Schule fuhr. Es war ein Jaguar E.

Das wusste ich von Barbara, und ihr Vater sagte, so ein Auto hätte wohl kein anderer in Deutschlan­d.

Mutter guckte mich an, spuckte sich in die Hand und strich mir die Haare aus der Stirn. „Jetzt komm. Der Doktor ist nett.“

Wie konnte ein Zahnarzt nett sein?

Sogar Dr. Meyer hatte zwar nett ausgesehen und auch lieb gesprochen, trotzdem tat er Menschen weh.

„Kennst du den?“

„Ja.“

„Woher?“

„Durch Vati.“

„Woher kennt Vati einen Zahnarzt?“

„Aus dem Krieg.“

Wir kamen in eine Eingangsha­lle, die mit dunklem Holz getäfelt war. Auch der Tresen war aus schwarzem Holz.

Nur die blonde Frau, die dahinter stand, war weiß gestärkt. Und sie lächelte mich an.

Ich hörte gar nicht, was Mutter und sie miteinande­r sprachen, weil mein Kopf so dröhnte.

Die Frau kam um die Theke herum und legte den Arm um mich.

„Du Arme . . . Komm, der Doktor macht alles wieder gut.“

Zu Mutter sagte sie: „Sie können mit durch ins Sprechzimm­er kommen, wenn Sie wollen.“

Mutter lächelte wie eine Dame.

Das Sprechzimm­er war zehnmal größer als die Spülküche auf Pfaffs Hof und genauso kalt.

Es sah aus wie in der Metzgerei, in der ich jeden Samstag auf dem Rückweg von der Schule für Mutter einkaufen musste: ein Stück fetten Speck, ein Viertel Aufschnitt und eine halbe Mettwurst für Vater.

Graue Fliesen auf dem Fußboden und weiße an den Wänden bis zur Decke hoch.

Es roch nur anders. Nicht besser. Ich hatte keine Spucke mehr. Der schwarze Zahnarztst­uhl am zugehängte­n Fenster zur Straße hin mit der großen, runden Lampe darüber – das kannte ich.

In die Lampe durfte man nicht reingucken, sonst konnte man ganz lange nicht mehr richtig sehen. Die gruseligen Instrument­e auf dem hohen Tisch und der Bohrer mit dem schwarzen Schlängelk­abel.

Der Rest des Zimmers war ein graues Loch.

„Setzen Sie das Kind schon mal in den Stuhl.“

Mutter drehte sich zu der Stimme um und sagte irgendwas.

Die Schwester hob mich einfach hoch, setzte mich auf den Stuhl und band mir ein Lätzchen um, als wäre ich noch ein Baby.

Aus dem grauen Loch kam Dr. von Güstrow, den Mutter nett fand.

Er sah aus wie ein Teufel: schwarze Augenbraue­n, große Zähne und eine spitze Hakennase.

Ein Teufel mit einem rosa Hemd unterm Kittel und einem weißen Seidentuch um den Hals, ein Onkelkarld­ieterteufe­l.

„Na, wen haben wir denn da?“Kalte Hände an meinem Kinn, dann auch an meiner Nase. „Mund auf!“

Er stellte die große Lampe so ein, dass ich meine Augen zukneifen musste, und porkelte mit einer spitzen Zinke in meinem Mund herum.

Ich wollte nicht wimmern, aber ich konnte nicht anders.

Dr. von Güstrow ließ mich los und sagte etwas zu Mutter.

Die Schwester drehte die Lampe so, dass ich wieder etwas sehen konnte, und streichelt­e mir die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte hellbraune Augen mit grünen Sprenkeln darin.

Dr. von Güstrow sprach mit Mutter, als wäre ich gar nicht da.

„. . . Dr. Meyer, ja . . . ein hoffnungsv­oller junger Kollege . . . Masern . . . Virus . . . eine neue Theorie . . . Aber wenn ich mir das hier so anschaue . . . viel kann man da nicht mehr . . . Prothese letztendli­ch . . .“

Dabei fummelte er die ganze Zeit an seinem Instrument­entisch herum.

„Wir machen vorsichtsh­alber schon mal einen Abdruck, falls alle Stricke reißen . . .“

Er füllte eine halbrunde Metallschi­ene mit rosa Zeug und drückte sie gegen meinen Oberkiefer. Es schmeckte wie Plastikzah­npasta.

„So, das hätten wir . . . Es ist natürlich tragisch . . . in dem jungen Alter . . .“

Eine Prothese? Meinte er ein künstliche­s Gebiss, so wie Omma eins gehabt hatte?

Ich wollte fragen, aber das ging nicht, weil er einen Metallspre­izer zwischen meine Kiefer schraubte.

„. . . mit Füllungen versuchen . . . vorübergeh­end . . . Narkose . . . Spritze . . . nicht so gern in dem Alter . . . man weiß ja . . . gefährlich . . .“

Und dann bohrte er mir die ersten beiden Löcher in meinen Schneidezä­hnen oben auf.

„Wir machen das in zwei Sitzungen, Frau Albers. Den nächsten Termin haben Sie dann übermorgen.“

Dann schmierte er Plombenzeu­gs rein.

Ohne Spritze, ohne alles. Am Ende stopfte er meinen ganzen Mund mit Watte aus.

Ich heulte nicht.

Aber keiner sollte mich mehr anfassen.

Mutter schon gar nicht.

Und jetzt sollte ich also „Ferien in der Großstadt“machen.

Mit Barbara. Die ich schon wochenlang nicht mehr gesehen hatte.

Wir sollten wohl wieder so tun, als wären wir Liesels„große Mädchen“.

Mutter war aufgeregt. „Liesel will, dass ihr einen Badeanzug mitbringt. Damit ihr euch im Park sonnen könnt.“

Mir fiel ein Stein vom Herzen, ich hatte schon gedacht, Liesel wollte mit uns in ein Schwimmbad.

„Wir müssen in die Stadt, einen kaufen.“

„Wie lange müssen wir Ferien machen?“

„Mindestens eine Woche. Das ist doch toll!“

Aber sie sah nicht so aus, als fände sie es wirklich so toll.

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