Grüner Profit aus der Groko
Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen wenige Tage vor der Wahl in Hessen. Tarek Al-Wazir könnte der zweite grüne Ministerpräsident werden.
BERLIN Sie sind so sauer, dass sie platzen könnten. Aber jetzt gilt es für die Christdemokraten in Hessen, Ruhe zu bewahren. Ihr Ministerpräsident Volker Bouffier hatte ja schon kurz vor der Landtagswahl in Bayern am vorigen Sonntag gewettert, dass die CSU und ihr Vorsitzender Horst Seehofer die Union viel Vertrauen gekostet hätten mit dem ewigen Zoff um die Flüchtlingspolitik. Damit ist die Schuldfrage schon einmal geklärt, wenn es bei der eigenen Landtagswahl am 28. Oktober einen herben Rückschlag geben sollte. Aber dass die Schwesterpartei aus ihrem Verlust der absoluten Mehrheit und dem historisch schlechtesten Ergebnis von nicht einmal 38 Prozent in Bayern nun gar keine Konsequenzen gezogen hat, versetzt den christdemokratischen Wahlkämpfern in Hessen noch einmal einen Schlag. Das Signal sei doch, sagt einer aus der Führungsspitze, „seht her, Verluste ja, Veränderungen nein, Hauptsache regieren, weiter so.“Das sei fatal. Den Frust darüber würden Wähler jetzt in Hessen abladen. Irgendein Ventil müsse es ja geben.
Bei den Sozialdemokraten sieht es nicht besser aus. Im Bund in der Koalition zwischen der streitenden CDU und CSU zerrieben, in Bayern einstellig geworden, kein Blick nach vorn. Für den SPD-Spitzenkandidaten Thorsten Schäfer-Gümbel ein Graus. Die Quittung für beide Parteien seien die am Donnerstag veröffentlichten Umfragen von ARD und ZDF. Danach stürzt die CDU auf 26 Prozent (2013: 38,3) und die SPD auf 20 bis 21 Prozent (vorher: 30,7 Prozent) ab, die Grünen klettern mit 20 bis 22 Prozent in die Höhe (2013: 11,1 Prozent). Für Bouffier und Schäfer-Gümbel bedeutet das:
CDU
SPD
Nicht einmal zusammen könnten ihre Volksparteien die Mehrheit erringen, sie bräuchten einen dritten Partner – oder es freut sich gleich ein Dritter: Grünen-Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir.
In der Bundes-CDU setzt man darauf, dass der 47-Jährige keine rot-rot-grüne Regierung bildet, wenn Schwarz-Grün weiter möglich ist. Aber sie sind in Berlin professionell genug, um zu wissen, dass er der CDU zuliebe nicht darauf verzichten könnte, nach Winfried Kretschmann, dem Oberrealo der Grünen in Baden-Württemberg, zweiter grüner Ministerpräsident in Deutschland zu werden in einer grün-rot-roten Koalition.
Grüne
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte in ihrer Zeit als Ministerpräsidentin einer schwarz-roten Regierung ihre potenziellen Anhänger bei ihrer Landtagswahl im Saarland 2017 gewarnt, sie zöge sich ganz aus der Landespolitik zurück, wenn es zu einer rot-roten Regierung käme. Sie gewann die Wahl. Deutlich.
Bouffier droht jetzt nicht. Er grenzt sich auch nicht von den Grünen ab. Er sagt nur: „Bundesweit leben die Grünen von der Anti-Groko-Stimmung.“Und er warnt allgemein vor „den Linken“: „Die Linken dürfen in Hessen nicht in irgendeiner Weise an die Regierung kommen.“Das würde den Wirt-
Linke
schaftsstandort Hessen Arbeitsplätze kosten.
Und CDU, CSU und SPD würde es wohl weiter viel Stabilität im Bund kosten, wenn die Grünen in Hessen an die Macht kämen. Dann wäre fraglich, ob die Parteichefinnen von CDU und SPD, Angela Merkel und Andrea Nahles, das machen werden, was Seehofer tat: nichts. Erst einmal abwarten, ob sich alles wieder beruhigt. So wie die CSU jetzt erst einmal eine neue Regierung in Bayern bildet, Markus Söder wieder zum Ministerpräsidenten wählt und dann schaut, ob noch personelle Konsequenzen gezogen werden müssen, wenn schon wieder alle in ihren Ämtern weiter arbeiten. Eher könnten
FDP
beide Frauen schwer unter Druck als Parteivorsitzende geraten.
Die Grünen haben in Hessen eine lange Tradition. Joschka Fischer wurde hier 1985 als erster Landesminister der erst fünf Jahre zuvor auf Bundesebene gegründeten Grünen vereidigt, in der ersten rot-grünen Landesregierung. 2014 schmiedeten sie dann das erste schwarz-grüne Bündnis in einem Flächenland. Die Koalition sollte auch als Testlauf für den Bund dienen. Doch 2017 reichte es dafür unter Kanzlerin Merkel nicht. Dafür funktionierte die Zusammenarbeit der beiden so unterschiedlichen Parteien inWiesbaden gut. Für die Grünen sehr gut. Beliebtester Politiker im Land ist Al-Wazir.
AfD
Er gibt Bouffier in diesem Punkt recht: „Ich glaube, dass die SPD, ebenso wie die CDU übrigens, unter dem unfassbar schlechten Auftreten der großen Koalition in Berlin leidet.“Das sehe man an den Umfrageergebnissen. „Ob daraus tatsächlich Wahlergebnisse werden, würde ich lieber abwarten“, sagt er unserer Redaktion. Und: „Stimmungen sind noch lange keine Stimmen.“Die Grünen konzentrierten sich auf Sacharbeit: Energiewende, Agrarwende, Verkehrswende. „Und dann schauen wir am Wahlabend, was rechnerisch geht – und natürlich auch in der Sache.“Aber eben auch rechnerisch.