Nach Feierabend zum Singen
Immer mehr Gemeinden laden zum gemeinsamen zwanglosen Singen nach der Arbeit. „Rudelsingen ist wie ein Kurzurlaub im Alltag“, sagt Hannes Weyland, Vorsänger in Hilden.
RATINGEN Kathrin Stuke singt für ihr Leben gern. Und das am liebsten gemeinsam mit anderen. „Es gibt kaum etwas Schöneres, als in der Gemeinschaft zu singen“, sagt die pensionierte Lehrerin aus Ratingen. „Da muss man nicht einmal besonders gut die Töne treffen. Das fällt gar nicht auf. Stören tut es auch niemanden.“Deshalb ist sie an einem Mittwochabend in die Evangelische Stadtkirche in Ratingen gekommen – zum ersten Feierabendsingen. Und mit ihr rund 100 weitere musikalisch begeisterte Menschen. Mütter mit Kindern sind da, junge und ältere Erwachsene. Und sie alle singen zusammen „What a Wonderful World“von Louis Amstrong.
Ein„Workout“-Programm für Körper und Geist nennt Kantor Martin Hanke das neue Angebot. Denn Singen ist gesund, das haben schon diverse wissenschaftliche Studien erwiesen. So regt es beispielsweise das Herz-Kreislaufsystem an, zudem wird das Immunsystem gestärkt. Musiktherapeuten nutzen das Singen auch als Hilfe bei Depressionen. All das schwingt auch beim Feierabendsingen im Hintergrund mit. „Nachweislich ist das Singen eine ganz besondere Form der Entspannung“, sagt Hanke. So sollen die Teilnehmer nach Feierabend den Arbeitsalltag hinter sich lassen und auf andere Gedanken kommen.
Ähnliche Angebote gibt es derzeit in immer mehr Gemeinden, teils unterscheidet sich nur das Etikett. So fand in Hilden im Oktober bereits zum fünften Mal das sogenannte Rudelsingen statt. Das vor einigen Jahren in Münster aus der Taufe gehobene Format funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Hobbysänger jeden Alters treffen sich, um gemeinsam Hits und Gassenhauer zu schmettern. Mittlerweile zehn Teams sorgen bundesweit für ausverkaufte Hallen. „Rudelsingen ist wie ein Kurzurlaub im Alltag“, sagt Hannes Weyland, Vorsänger in Hilden.
Michaela Krämer ist Gesangsprofessorin an der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule. Sie sagt, dass grundsätzlich jeder singen kann. Und man so früh wie möglich damit anfangen sollte. „Man darf sich nur nicht entmutigen lassen durch andere, die vielleicht sagen, dass man schief singe“, sagt Krämer. Oftmals sei nämlich genau das das Problem. „Man hat als Kind gesagt bekommen, dass man es nicht kann. Und dann hat man es irgendwann gelassen“, sagt sie. Aber genau das sei falsch.
Natürlich könne nicht jeder wie ein Profi singen, aber man könne sich verbessern. „Wer nur einmal die Woche übt, wird sich ein halbes Jahr später wundern, wie toll er plötzlich singen kann“, sagt Krämer. Singen sei etwas Schönes, etwas Befreiendes. „Jeder sollte es einfach auspro- bieren, gemeinsam mit anderen zu singen“, rät die Expertin.
Mit dem Feierabendsingen in Ratingen sollte darüber hinaus bewusst ein Ort geschaffen werden, an dem Grenzen fallen – musikalisch zwischen weltlich und geistlich zum Beispiel sowie zwischen altem und modernem Liedgut. Hemmungen, dass es um die eigenen gesanglichen Fähigkeiten nicht so gut bestellt ist, sind hier ebenfalls fehl am Platz. „Das Feierabendsingen soll kein neuer Chor sein“, sagt Hanke. Es geht darum, bekannte Melodien zu singen – jeder so gut, wie er kann. Hanke begleitet dazu am Klavier. Allerdings darf das gemeinsame Musizieren durchaus auch als Sprungbrett verstanden werden. „Wem das vielleicht irgendwann nicht mehr ausreicht, der ist natürlich herzlich eingeladen in die Chöre der Gemeinde“, erklärt Ortspfarrer Gert Ulrich Brinkmann. Nachwuchs sei willkommen.
Denn die Chorlandschaft habe sich in den vergangenen Jahren stark verändert. So halte etwa die Mehrstimmigkeit der klassischen Chormusik viele vom Singen ab – die Sorge, dem nicht gewachsen zu sein, ist bei vielen groß. Insofern ist das Feierabendsingen auch ein Schritt nach vorne. „Wir haben uns in letzter Zeit stärker mit der Frage beschäftigt, ob und wie sich der Gesang in der Gemeinde verändert hat, und was man einem möglichen Rückgang entgegnen kann“, sagt Brinkmann.
Zweimal monatlich jeweils an einem Mittwoch soll das Feierabendsingen in Ratingen zunächst bis Januar stattfinden. Dabei steht jeder Abend unter einem besonderen Motto – von„Wind“mit Liedern wie „Blowin‘ in theWind“oder„Wind of Change“bis„Fliegen“mit dem Lied „Über denWolken“. In derVorweihnachtszeit werden selbstverständlich auch Adventslieder berücksichtigt. Die Sänger dürfen zudem Wünsche und Themenvorschläge äußern. Hanke und Brinkmann versprechen sich zudem Impulse für die Gemeinde, ein „Win-winGeschäft“sozusagen. Brinkmann: „Es wäre doch schön, wenn wir so an neue Lieder kommen und den Gesang in den Gottesdiensten beleben könnten.“