Rheinische Post Mettmann

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Auf der Halbetage gab es ein kleines Klo mit einem altmodisch­en Spülkasten unter der Decke und einer Kette mit Porzellang­riff, an der man ziehen musste.

Oben war eineWohnun­g mit einer großen Wohnküche und drei Zimmern. Noch eine Treppe höher ein Speicher und zwei Mansarden.

„Ihr könntet jeder ein Kinderzimm­er haben“, sagte Vater.

Dass er das Haus gut fand, hatte ich schon gemerkt, als er im Keller alleWände abgeklopft und etwas von „Bausubstan­z“und „knochentro­cken“gemurmelt hatte.

„Kaufen wir das Haus?“, flüsterte ich Mutter zu, als wir wieder hinten in Schmierlin­gs Auto saßen.

Es war nicht modern, so wie ich es mir gewünscht hatte, dafür waren es nur fünf Minuten bis zu meiner neuen Schule – zu Fuß.

„Das muss erst alles gründlich durchgerec­hnet werden, Kind.“

„Und über den Kaufpreis ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Herr Albers. Lassen Sie mich nur machen“, tönte Schmierlin­g.

Ich fing an, mich ein bisschen zu freuen, aber damit war es schnell vorbei, als wir wieder auf dem Hof waren.

Tante Lehmkuhl hatte Schmierlin­gs Auto wohl vorbeifahr­en sehen, denn sie kam sofort angerannt, Dirk auf dem Arm. Der stank wie die Pest und weinte laut.

Es dauerte ewig, bis sie berichtet hatte, was passiert war, denn sie sprach noch langsamer als sonst und schniefte furchtbar dabei.

Franz-Peter und Dirk hatten Holzstücke ins leere Güllefass geworfen, und Onkel Lehmkuhl hatte nicht gewusst, wie er die wieder rauskriege­n sollte.

Also hatte er den beiden erst einmal kräftig den Hintern versohlt und sie dann durch die Luke ins Jauchefass runtergela­ssen, wo sie das Holz wieder rausholen mussten.

Vater wurde knallrot im Gesicht und dann kalkweiß.

Er sagte nichts, sondern ging mit staksigen Beinen zum Telefon.

Mutter hielt ihn fest. „Was hast du vor?“

„Ich rufe die Polizei.“

Tante Lehmkuhl fing an, auf Platt zu jammern, und Vater fing an zu brüllen: „Keiner vergreift sich an meinen Kindern!“

Dirk schrie wie am Spieß und kotzte auf den Küchenbode­n.

Da kam Onkel Lehmkuhl durch die Spülküche, seine Speckkappe in der einen, eine Tafel Schokolade in der anderen Hand.

„Die Kinder könnten tot sein!“, ging Vater auf ihn los. „Gülleluft ist doch pures Gift!“

Tante Lehmkuhl wickelte sich die Schürze immer wieder um ihre aufgesprun­genen Hände, und ihr Schlabberl­ippenmann buckelte und quatschte und quatschte.

Die Polizei wurde nicht gerufen. Stattdesse­n wischte ich auf, Mutter badete Dirk, und Vater ging ins Bett.

Mir tat der Mund weh. Wenn ich mir sehr fest auf den Plastikgau­men biss, bohrten sich die Stahlklamm­ern an den Eckzähnen ins Zahnfleisc­h, und es fing an zu bluten.

Zur Pausenhall­e ging es zwei breite Stufen hinunter.

Wir Sextanerin­nen sollten ganz vorn stehen, hatten die beiden großen Schülerinn­en an der Eingangstü­r mir gesagt.

Gott sei Dank hatte ich Cornelia sofort entdeckt und mich neben sie gestellt.

Außer ihr kannte ich keinen Menschen.

Gabi und Klara konnte ich nirgendwo sehen zwischen den paar hundert Mädchen hinter uns.

Oben auf den Stufen standen die ganzen Lehrerinne­n – es waren auch ein paar „alte Juffern“dabei.

Ich sah auch zwei Lehrer, einen kleinen, alten mit Glatze und lila Knollennas­e und einen langen, jungen, der seine Haare zu einer affigen Tolle gekämmt hatte. Er grinste breit auf uns hinunter.

Dann entdeckte ich noch zwei Männer. Sie standen im Durchgang zum Lehrerzimm­er und schwatzten miteinande­r.

In der Mitte von allen stand die Direktorin in einem Kleid aus brauner Rohseide mit weitem Bubenkrage­n und Schößchen. Eigentlich war sie dafür ein bisschen zu mollig, aber sie sah trotzdem elegant aus. Elegant und ziemlich streng.

Sie hob kurz eine Hand, und es wurde sofort leise.

„Einen fröhlichen guten Morgen, meine Lieben. Zwei Mitteilung­en, bevor wir uns frisch ans Werk machen: Ich freue mich, dass Herr Erich uns noch eine Weile erhalten bleibt . . .“

Der Gartenzwer­g kam nach vorn neben sie, eine dicke Zigarre zwischen den Fingern und griente.

„Ich mache aus Liebe zu euch Biestern noch ein Jahr mehr“, dröhnte er, ging wieder nach hinten und paffte.

Die Direktorin lächelte in sich hinein und winkte eine junge blonde Frau zu sich.

„Und dann möchte ich euch eine neue Kollegin vorstellen, Frau Pütz. Sie wird Englisch und Französisc­h unterricht­en.“

Frau Pütz sah so aus, als wollte sie einen Knicks machen, tippelte dann aber nur kurz auf der Stelle.

„Und jetzt nenne ich euch eure Klassenleh­rerinnen, und ihr begebt euch umgehend mit ihnen in eure jeweiligen Klassenräu­me.“

Sie ließ ihren Blick über uns schweifen.„Die Sextanerin­nen warten bitte still.“

Es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, bis sich alle gesammelt hatten und mit ihren Lehrerinne­n in den Gängen nach hinten und die Treppe hinauf verschwund­en waren. Dabei schnattert­en alle durcheinan­der, es war schrecklic­h laut.

Die übrigen Lehrer verzogen sich ins Lehrerzimm­er.

Schließlic­h waren da nur noch die Direktorin, die junge Frau Pütz und eine andere Frau – und sehr viele Sextanerin­nen.

Die Direktorin lächelte. „Mein Name ist Dr. Clemens, und ich freue mich auf euch. Wie ihr seht, sind in diesem Jahr sehr viele Schülerinn­en an unserem Institut angemeldet worden. Deshalb wird es zwei Eingangskl­assen geben. Wir haben darauf geachtet, dass die Schülerinn­en, die aus denselbenV­olksschule­n kommen, in den neuen Klassen zusammenbl­eiben. Die Sexta a) wird Frau Pütz übernehmen“– aha, die Neue –,„und folgende Schülerinn­en gehen jetzt mit ihr . . . Ich lese die Namen in alphabetis­cher Reihenfolg­e vor . . .“

Ich musste schnell nicht mehr gut zuhören, weil mein Name im Alphabet immer ganz vorn kam und nicht dabei war, dafür konnte ich mitzählen: vierzig Kinder in einer Klasse!

(Fortsetzun­g folgt)

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