Rheinische Post Mettmann

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Alle anderen waren katholisch und durften in ihren Klassen bleiben. Die Direktorin nahm uns mit durch die Pausenhall­e in den Flur, in dem das Lehrerzimm­er war, und führte uns in den Vorraum zur „Lehrerbibl­iothek“, in dem sechs Erwachsene­ntische mit Lederstühl­en standen.

„Ihr lasst bitte eure Schultasch­en in euren Klassenzim­mern und nehmt nur das mit, was ihr für den Religionsu­nterricht braucht. Nach der Stunde kehrt ihr unverzügli­ch in eure jeweiligen Klassen zurück.“Sie guckte mich an, und ich nickte. „Jeden Mittwoch ist um acht Uhr Schulgotte­sdienst, für euch im Versöhnung­ssaal der evangelisc­hen Gemeinde.Weiß jede von euch, wo der ist?“

Cornelia und ich wussten es nicht. Ich würde mit dem Bus eine Station weiter fahren müssen.

Nach dem Gottesdien­st sollten wir zur Schule laufen – „und zwar ein bisschen zackig!“.

Pünktlich zu Beginn der zweiten Stunde mussten wir in unseren Klassen sitzen.

Die dunkle Silke schimpfte vor sich hin, und die Direktorin grinste. „Ja, ich weiß, die katholisch­e Kirche ist gleich um die Ecke, und eure Mitschüler­innen haben es leichter. Aber so ist das nun mal. Und als aufrechte Protestant­en seid ihr doch Kummer gewohnt. Zeigt mal ein bisschen Sportsgeis­t!“Evangelisc­h war die nicht. Es schellte.

„Ihr holt bitte eure Pausenbrot­e aus euren Klassen und dann ab auf den Schulhof, meine Lieben!“Sie klatschte in die Hände. „Und es wird nicht gelaufen!“

Der Schulhof war sehr schön, nicht gepflaster­t oder asphaltier­t wie bei meinen anderen Schulen, sondern ein großer Rasen mit Hecken und Büschen drum herum.

Wir Evangelisc­hen standen zusammen.

Die zwei aus der Sexta a) hießen Beatrix und Christine.

Die Silkes hatten beide ältere Schwestern an der Schule und konnten viel erzählen.

Sie nannten Frau Dr. Clemens nur „die Direx“, Herrn Erich „Paffi“. Der junge Lehrer mit der Tolle hatte den Spitznamen „Adonis“, und die ganze Oberstufe schwärmte für ihn. Die alten Juffern wohl auch, wie man so hörte . . .

Die Silkes kicherten.

Frau Illner, unsere Religionsl­ehrerin, war eigenartig.

Ich konnte nicht schätzen, wie alt sie war.

Sie hatte kurzes Haar, nicht blond, nicht braun, und glupschige blaue Augen.

Sie war sehr ernst, und wenn sie mal lächelte, dann nur mit dem Mund.

Sie gab Latein, Geschichte, Englisch und evangelisc­he Religion, und ich dachte, dass sie wohl sehr klug sein musste.

Wenn sie etwas sagte, konnte man gar nicht anders als ihr zuzuhören, und mir lief manchmal ein Schauer über den Rücken.

„Man hat mir den Verwaltung­skram aufs Auge gedrückt“, sagte sie und verteilte hektograph­ierte Blätter, die noch ein bisschen feucht waren und lecker nach Matrize rochen.

Dort mussten wir alles Mögliche eintragen: unsere Namen und Adressen, die Geschwiste­r, die Namen und Geburtsdat­en unserer El- tern und deren Berufe.

Ich wusste, ich hatte meine Zunge zwischen den Lippen, als ich„Justizvoll­zugsoberwa­chtmeister“hinschrieb.

Wir saßen nebeneinan­der an den Tischen, und Frau Illner schaute uns über die Schultern und sprach mit uns wie mit Erwachsene­n.

Der Vater der langen Silke war „Geschäftsm­ann“, die Mutter „Sekretärin“.

„Ihr habt eine Buchbinder­ei, nicht wahr?“

Die dunkle Silke hatte einen „Direktor“zum Vater und eine „Hausfrau“zur Mutter, wie ich.

„Was für ein Direktor?“– „Ach, in der Schuhfabri­k.“

Christine aus der Sexta a) kam aus einem Dorf an der Grenze, ihr Vater war Lehrer.

Und Beatrix’ Vater war „unbekannt“.

„Du bist ein unehrliche­s Kind?“Frau Illner lächelte ihr Lächeln. „Das ist doch mal ein schönes Thema.“

Dann erzählte sie uns, dass unehrliche Kinder absolut gleichbere­chtigt waren und dass man deren Mütter auf gar keinen Fall „diskrimini­eren“durfte.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte es richtig sein, wenn man unehrlich war? Man durfte doch nicht lügen!

Ich beschloss für mich, dass Frau Illner ein bisschen verrückt war.

Erst als sie sagte, die Ehe sei nicht die einzige „akzeptable Lebensform“, und ob ein Kind ehelich oder unehelich geboren wurde, sei völlig egal, verstand ich, wovon sie die ganze Zeit gesprochen hatte, und wurde rot – ganz für mich allein.

Es schellte, aber bevor wir in unsere Klassen gehen konnten, drückte uns Frau Illner noch einen Zettel in die Hand.

„Gebt den bitte euren Eltern. Es geht um die Anmeldung zur Konfirmati­on, beziehungs­weise zum Katechumen­enunterric­ht. Wir sehen uns dann am Mittwoch im Gottesdien­st.“

Mutter wollte alles über die Schule wissen, und das ging mir auf die Nerven. Sie verstand sowieso nichts.

Vor allen Dingen wollte sie mir jeden Tag die Englischvo­kabeln abhören.

„Dann kann ich auch Englisch lernen . . .“

Es war schrecklic­h, sie sprach alles falsch aus. Und obwohl ich ihr immer wieder das „th“vorsprach, das „r“und das„w“, machte sie es trotzdem nie richtig.

Sie wollte es nicht wirklich lernen, sondern kicherte nur herum. „Wieso sprechen die denn so komisch?“

Nach ein paar Tagen ließ sie mich dann Gott sei Dank in Ruhe, denn es sah so aus, als würden wir das Haus kaufen.

Andauernd kamen Männer zu uns.

Zuerst Vaters Kollege, der frühere Buchhalter. Er rechnete alles durch.

Dann zwei von der Spar- und Darlehensk­asse, die noch mal nachrechne­ten.

Und fast jeden Tag tauchte auch Schmierlin­g auf.

Ich verstand nicht genau, warum. Er redete von „Gewerken“und „Materialko­sten“, und zweimal brachte er Handwerker mit.

Ich hatte nicht gewusst, dass ein Makler sich auch um solche Sachen kümmerte.

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