Ein Jahr danach
Im August 2018 wurde in Chemnitz ein Deutsch-Kubaner getötet. Kurz danach zogen Rechtsextreme durch die Straßen. Wie hat die Stadt das verarbeitet?
CHEMNITZ Bis zum Tatort an der Brückenstraße sind es 60 Meter, bis zum Karl-Marx-Monument keine 30. Frauen und Männer haben auf der Wiese des Stadthallenparks Tücher ausgebreitet. Sie knicken das rechte Knie ein, dehnen den linken Unterschenkel nach oben. Besonders bequem sieht das nicht aus. Das Yoga steht für die Stimmung in der Stadt. Ein Versuch der Normalität, der jederzeit scheitern kann. Wo Chemnitzer mittlerweile Gymnastik machen, kam es ganz in der Nähe vor einem Jahr nach dem gewaltsamen Tod des Deutsch-Kubaners Daniel H. zu rechtsextremistischen Ausschreitungen. „Hetzjagden in Chemnitz“, stand in der Zeitung.
Die Yoga-Stunde ist Teil des Park-Sommer-Programms. Abends treten Bands auf. Nebenan flimmern Filmklassiker im Freilichtkino. Es war eine Samstagnacht, als das Fieber letzten August die Stadt erfasste. Die sächsische Metropole hat das überlebt, sie bewirbt sich um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt. Die Devise im Rathaus heißt: „Früher konnten wir uns bewerben, heute müssen wir es.“
Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen trübten den Optimismus in Chemnitz. Im„Café International“der Caritas, in dem Maytham Jabar, 49, Flüchtlingen beim Ausfüllen von Formularen hilft, erinnern sich die Besucher auch an die ermutigenden Szenen. Junge Deutsche hätten Kinder einer Flüchtlingsfamilie vor dem wütenden Mob in Sicherheit gebracht. Aber dennoch: „Das war für alle ein Schock“, sagt Jabar.
Inzwischen gebe es unter seinen Gästen keine Angst mehr, über die Straße zu gehen. Es sei viel passiert, von der Opferberatung bis zur Antidiskriminierungsstelle. Vor allem wegen der erhöhten Polizeipräsenz fühlten sich die Menschen in Chemnitz sicherer. Der Sonnenberg ist äußerlich eine Mischung aus schick modernisierten Altbauten und sanierungsbedürftigen Mietskästen. Und ein Schmelztiegel. Wer hier abends die Straßen entlangschlendert, wird von muskelbepackten, kahl geschorenen Typen kritisch beobachtet, die ihr Bier trinken und in ihren Gesprächen innehalten. Hier ist die Neonazi-Dichte immens hoch. Doch schon eine Ecke weiter betreibt ein syrischer Flüchtling einen Imbiss.
„Sonnenberg hat sich verselbständigt“, analysiert Markus Wolf. Der frühere Bauarbeiter, Altenpfleger und Zimmervermittler, 49, hat 1991 den Chemnitzer „Stadtstreicher“als Alternativblatt gegründet und die Entwicklung aus der Nähe mitverfolgt. In Sonnenberg habe keiner den verschiedenen Szenen auf die Finger geguckt. „Das haben die Rechtsextremisten auch als Vorteil erkannt und sich dort niedergelassen“, erinnert sich Wolf. Sie seien aus verschiedenen Bundesländern nach Chemnitz gezogen, aus Berlin, Hessen, dem Rheinland. „Wir ahnten immer, dass da rechtsextremistische Netzwerke entstanden sind, und plötzlich wussten wir, wie viele es sind“, lautete die zentrale Erkenntnis nach den Ereignissen des August 2018.
Zunächst schien es, als öffne das Ereignis gewalttätigem Rassismus und Antisemitismus Tür und Tor. Es gab Angriffe auf jüdische und persische Gastronomen, ein türkisches Lokal ging in Flammen auf. Doch seit dem Herbst herrscht Ruhe. Mancher glaubt nicht, dass es wirklich vorbei ist. Wie gering die Skrupel in Chemnitz sind, zeigte sich im März im Stadion, als die Szene einen verstorbenen Neonazi und mutmaßlichen Rädelsführer der Krawalle öffentlich betrauerte, unterstützt vom örtlichen Fußballclub. Die Bemühungen vieler Chemnitzer, ihr Rechtsextremismus-Image loszuwerden, waren angesichts dieser Stadionbilder sofort vergessen.
Es ist eine geteilte Stadt, in der Risse mitten durch Familien und Freundeskreise gehen. Früher oder später müsse man sich bei jeder Feier für die eine oder andere Seite bekennen, erzählen manche im Stadtviertel Kaßberg. Danach vermieden es die Seiten, einander noch mal einzuladen, um sich Streit und Stress zu sparen. Hier lagen die Grünen bei der Stadtratswahl auf Platz eins, die AfD auf Rang fünf. Drüben, auf dem Sonnenberg, war die AfD mit weitem Abstand vorne, die Grünen auf Rang vier. Bei der Europawahl schnellte die AfD im gesamten Stadtgebiet von neun auf über 23 Prozent. Um im Stadtrat mit nun zehn Parteien noch eine bürgerliche Mehrheit zu bekommen, müssen sich CDU, SPD, Grüne und FDP zusammentun.
Einer ist nicht mehr dabei. Thomas Lehmann, 51, hat als Grünen-Fraktionschef gegen die Neonazi-Szene gekämpft. Und viel Kraft gelassen. Er schließt nicht aus, später wieder in die Kommunalpolitik einzusteigen. „Aber jetzt muss ich erst mal neue Kraft tanken“, sagt der Werbefachmann und Biolandwirt. Schon in der DDR, in Gegnerschaft zum Stasi-System, hat er den Aufstieg der Rechtsextremisten genau verfolgt. Wie ein Notar für die Stadt arbeitete und parallel die NPD-Jugend aufbaute. Wie ein Burschenschafter sich den rechtsradikalen Nachwuchs an Chemnitzer Schulen herangezüchtet habe. Und wie er sich selbst immer wieder gefragt habe, warum so viele Chemnitzer nicht auf Distanz gehen, wenn die Hooligans in ihrer Stadt mit Neonazi-Sprüchen aufmarschieren.
Seine Erklärung: „Sie haben seit 1933 ununterbrochen in totalitären Systemen gelebt, hatten immer mit staatlichem Nationalismus und Antisemitismus zu tun und haben an der Schule nie Demokratie lernen können.“Weil dies nicht nur in Chemnitz so sei, hätten sich nach seiner Überzeugung die Szenen vom letzten Sommer auch in Halle, Cottbus und Frankfurt/Oder genauso ereignen können.
Die Sensibilität ist jedenfalls gewachsen. „Vor zehn Jahren hat das noch niemanden interessiert, wenn sie vor meinem Restaurant den Hitlergruß gezeigt haben – heute werden sie bestraft“, sagt Uwe Dziuballa, 54. Er kocht mit seinem Bruder koscher in Chemnitz. Sie lassen koscheres Bier brauen. Das Kalkül: „Wenn man merkt, dass das ganz normal schmeckt, denkt man vielleicht, dass die Juden auch ganz normale Menschen sind.“Dem Überfall von einem Dutzend Neonazis mit Steinen auf ihn vor einem Jahr ist kein weiterer gefolgt. Ab und zu schaut die Polizei vorbei.
Viele in Chemnitz hätten das Gefühl, es müsse sich dringend etwas ändern, erzählt Dziuballa. Liegt es daran, dass die Innenstadt noch vom sozialistischen Brachialbaustil geprägt wird? Weil Chemnitz „immer drauf“gekriegt hat? Im Weltkrieg die Zerstörungen, nach der Wende der Verlust Zehntausender Arbeitsplätze. Oder weil es abgehängt ist? Der einzige ICE, der in Chemnitz hält, ist der in der Modelleisenbahnanlage im Bahnhof für einen Euro pro Spiel.
Den Verantwortlichen schwant Schlimmes, wenn das Gerichtsverfahren gegen den einzigen derzeit inhaftierten Tatverdächtigen so ausgeht, wie es sich abzeichnet. Es mangelt offenkundig an Beweisen. Aus Furcht haben sie das Stadtfest zum Jahrestag der Ausschreitungen abgesagt. Initiativen taten sich daraufhin zusammen, um ein Bürgerfest aufzuziehen. Es soll schön bunt werden.