Als der Wagen nicht kam
Es war bei allem Elend rasend komisch, als er immer wieder fragte, wo er verwundet sei. Bis er sich überzeugt hatte, dass ihm nichts fehle, hatten sich nun die Russen dazwischengeschoben und Sorge und Körner waren verschwunden, als wir endlich auf der andern Seite ankamen. Körner ist bei diesem Gang umgekommen. Auf dem Weg zu den Dominikanern sind sie in deutsches Maschinengewehrfeuer geraten.
Wir gingen um den Plötzensee herum auf die Seestraße, bogen aber wegen Frontnähe wieder östlich ab. Unterwegs trafen wir einen Gefangenen aus Plötzensee. Er schob einen großen Handwagen, beladen mit Sachen. Obenauf thronte mein Waschbärpelz, den ich Pfarrer Buchholz zum Verwahren gegeben hatte. Er hatte also dessen Wohnung ausgeplündert. Mein bourgeoiser Eigentumsinstinkt entflammte und ich wollte ihm die Beute wieder abjagen. Die im Gefängnis gelernte Geduld und Vorsicht brachten mich aber zu der Überlegung, dass er nur einem der umherwimmelnden Russen – legitimiert durch Kleidung und Galgenvogelgesicht – zu sagen brauchte, er solle mich liquidieren. Als wir in das sogenannte Afrikanische Viertel amWedding gelangten, baten wir in einem großen Arbeitermiethaus, ob wir im Luftschutzkeller übernachten dürften. Auf das Stichwort Plötzensee mit dem lebenden Ausweis in Gestalt von Hen Kraemer wurde uns diese Bitte freundlichst gewährt. Es herrschte noch Angst vor den Nazis, denn es wurde uns empfohlen, uns möglichst unsichtbar zu machen, da viele Nazis im Hause wohnten. Wir beteten gemeinsam die lauretanische Litanei und schliefen den
ersten freien Schlaf.
Am 26. April 1945 war es wegen der Frontnähe unmöglich, in die Stadt vorzudringen, daher gingen wir am Stadtrand entlang nach Reinickendorf. Der Abmarsch war beschleunigt, da Gerüchte von einem deutschen Gegenstoß in den russisch besetztenWedding auf- tauchten. Mehrfach hielten uns Russen an mit den üblichen Fragen: „Soldat?“und „Uhr?“. Sie waren immer zufrieden mit der Antwort: „Nix Uhr, nix Soldat, wiasny politiczny“. Einer gab uns Brot und Butter, so wie mir am Vortage ein Soldat ein Päckchen Zigaretten geschenkt hatte, mit denen ich mir trotz ihrer Scheußlichkeit leider wieder das Rauchen angewöhnte. In Reinickendorf brachte uns der Pfarrer Lampe in der Wohnung einer Dame unter, die aus Angst vor den Russen in das Pfarrhaus geflüchtet war. Wir erfuhren zum ersten Mal zuverlässig von den Plünderungen und Vergewaltigungen. Im Wedding hatten wir all den Schrecken noch nicht recht glauben wollen. Es war eine heilsame, wenn auch betrübliche Lehre für die Kommunisten. Die Russen hielten die Arbeiterwohnungen im Wedding für Paläste von Kapitalisten. Das Pfarrhaus wurde respektiert und bot vielen Frauen Schutz.
Am 27. April 1945 versuchten wir vergeblich, über die Residenzstraße in die Stadt einzudringen, da wir auf die Front stießen. Reinickendorf war von einem alten Oberst und sechzig Volkssturmleuten „verteidigt“worden. Ergebnis: einige Tote, viele ausgebrannte Häuser und allenthalben umherliegende Uniformen undWaffen. Die Leute hatten„Avanti“gemacht. Ich bin guter Dinge, da alle erklären, der Westen der Stadt sei von Amerikanern besetzt.
Am 28. April 1945 versuchen wir in kindlichem Unverstand, bei den russischen Kommandanten Passierscheine zu erhalten, natürlich vergeblich. Albers verlässt uns in Richtung Moabit. Mohr fühlt sich zu elend und bleibt in Reinickendorf. Mittags trete ich mit Kraemer den Vormarsch nach Siemensstadt an zu dem mir bekannten Pfarrer Schink. Wir müssen vor Artilleriebeschuss in einen Luftschutzkeller flüchten. Dann geht es weiter über den Tegeler Schießplatz und eine Pontonbrücke durch wilde russische Kolonnen hindurch. Kraemer hatte sich eine holländische Kokarde gebastelt, auf die hin zwei andre Holländer ebenfalls mit Kokarden zu uns stießen, so dass ich auch von diesem Schutzzeichen mitprofitierte. Längs des Großschifffahrtsweges lag eine polnische Einheit mit Konfederatkas, weißen Adlern und weißroten Fähnchen. Sie gaben uns Holländern sehr gut zu essen, und der gut aussehende Offizier erklärte deutlich, sie seien eine selbständige polnische Truppe und gehörten nicht zur roten Armee. Quod Deus bene vertat! (Wie Gott doch alles zum Guten wendet!) Pfarrer Schink nahm uns freundlichst auf. Von Anglosachsen in West-Berlin ist keine Rede, sie stehen an der Elbe.
Am 29. April 1945 ist Sonntag. Ich besuchte die Hl. Messe in der wenig beschädigten Kirche. Gegen zehn Uhr marschieren wir in Richtung Jungfernheide-Charlottenburg, da die Spreebrücken Richtung Westend alle unpassierbar sind und wir kommen in Batteriestellungen, Stalinorgeln schießen, Gewehrfeuer, kein Durchkommen möglich. Schweren Herzens – Grunewald ist nur wenige Kilometer entfernt – kehren wir um. An der S-Bahnbrücke in Siemensstadt hält uns ein russischer Posten an. Kraemer jagt er fort, mich nimmt er mit zur russischen Kommandantur. Dort steckt man mich in ein Zimmer, wo schon einige Deutsche sitzen. Nach und nach werden noch einige gebracht, gut ein Dutzend, darunter der unierte Emigrantenpater Schluski von der Herz-Jesu-Pfarre in Charlottenburg. Niemand kümmert sich um uns. Als es dunkelt, werden wir ohne Erklärungen und ohne Essen und Trinken in den unbeleuchteten tiefen Keller geführt, und ich schlafe dort auf dem Boden.
30. April 1945: Wir bekamen etwas Brot und Kaffee, mittags wiederum. Niemand kümmerte sich um uns. Gegen 17 Uhr wurden wir nach oben zum Kommandanten gebracht. Die meisten ließ man sofort frei. Ich wurde in das Büro geführt, wo außer dem Kommandanten und einer Dolmetscherin ein fetter, blonder GPU-Major – die Kennzeichen wusste ich schon – saß. Die Dolmetscherin fragte, ob ich Soldat sei. Ich verneinte das und versuchte, ihr meine Befreiung aus Plötzensee und die Zusammenhänge vom 20. Juli klar zu machen. Sie konnte sprachlich nur das Allerelementarste und war geistig unvorstellbar primitiv. Ich sah zum ersten Male den Typ„Sowjetmensch“. Ich versuchte, ihr meinen Haftbefehl, mein einziges „Dokument „ zu zeigen. Als sie das Papier nur sah, kreischte sie los: „Du Papier selber kannst machen auf Maschine, Papier nix, nix, nix!“Ich war noch froh, dass ich es schnell wieder einstecken konnte. Dann erklärte sie, ich sei offenbar ein geflüchteter General. Ich versuchte, diese gefährliche Ehre von mir abzutun durch Hinweis auf meinen Zivilberuf.
(Fortsetzung folgt)