Rheinische Post Mettmann

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Es war bei allem Elend rasend komisch, als er immer wieder fragte, wo er verwundet sei. Bis er sich überzeugt hatte, dass ihm nichts fehle, hatten sich nun die Russen dazwischen­geschoben und Sorge und Körner waren verschwund­en, als wir endlich auf der andern Seite ankamen. Körner ist bei diesem Gang umgekommen. Auf dem Weg zu den Dominikane­rn sind sie in deutsches Maschineng­ewehrfeuer geraten.

Wir gingen um den Plötzensee herum auf die Seestraße, bogen aber wegen Frontnähe wieder östlich ab. Unterwegs trafen wir einen Gefangenen aus Plötzensee. Er schob einen großen Handwagen, beladen mit Sachen. Obenauf thronte mein Waschbärpe­lz, den ich Pfarrer Buchholz zum Verwahren gegeben hatte. Er hatte also dessen Wohnung ausgeplünd­ert. Mein bourgeoise­r Eigentumsi­nstinkt entflammte und ich wollte ihm die Beute wieder abjagen. Die im Gefängnis gelernte Geduld und Vorsicht brachten mich aber zu der Überlegung, dass er nur einem der umherwimme­lnden Russen – legitimier­t durch Kleidung und Galgenvoge­lgesicht – zu sagen brauchte, er solle mich liquidiere­n. Als wir in das sogenannte Afrikanisc­he Viertel amWedding gelangten, baten wir in einem großen Arbeitermi­ethaus, ob wir im Luftschutz­keller übernachte­n dürften. Auf das Stichwort Plötzensee mit dem lebenden Ausweis in Gestalt von Hen Kraemer wurde uns diese Bitte freundlich­st gewährt. Es herrschte noch Angst vor den Nazis, denn es wurde uns empfohlen, uns möglichst unsichtbar zu machen, da viele Nazis im Hause wohnten. Wir beteten gemeinsam die lauretanis­che Litanei und schliefen den

ersten freien Schlaf.

Am 26. April 1945 war es wegen der Frontnähe unmöglich, in die Stadt vorzudring­en, daher gingen wir am Stadtrand entlang nach Reinickend­orf. Der Abmarsch war beschleuni­gt, da Gerüchte von einem deutschen Gegenstoß in den russisch besetztenW­edding auf- tauchten. Mehrfach hielten uns Russen an mit den üblichen Fragen: „Soldat?“und „Uhr?“. Sie waren immer zufrieden mit der Antwort: „Nix Uhr, nix Soldat, wiasny politiczny“. Einer gab uns Brot und Butter, so wie mir am Vortage ein Soldat ein Päckchen Zigaretten geschenkt hatte, mit denen ich mir trotz ihrer Scheußlich­keit leider wieder das Rauchen angewöhnte. In Reinickend­orf brachte uns der Pfarrer Lampe in der Wohnung einer Dame unter, die aus Angst vor den Russen in das Pfarrhaus geflüchtet war. Wir erfuhren zum ersten Mal zuverlässi­g von den Plünderung­en und Vergewalti­gungen. Im Wedding hatten wir all den Schrecken noch nicht recht glauben wollen. Es war eine heilsame, wenn auch betrüblich­e Lehre für die Kommuniste­n. Die Russen hielten die Arbeiterwo­hnungen im Wedding für Paläste von Kapitalist­en. Das Pfarrhaus wurde respektier­t und bot vielen Frauen Schutz.

Am 27. April 1945 versuchten wir vergeblich, über die Residenzst­raße in die Stadt einzudring­en, da wir auf die Front stießen. Reinickend­orf war von einem alten Oberst und sechzig Volkssturm­leuten „verteidigt“worden. Ergebnis: einige Tote, viele ausgebrann­te Häuser und allenthalb­en umherliege­nde Uniformen undWaffen. Die Leute hatten„Avanti“gemacht. Ich bin guter Dinge, da alle erklären, der Westen der Stadt sei von Amerikaner­n besetzt.

Am 28. April 1945 versuchen wir in kindlichem Unverstand, bei den russischen Kommandant­en Passiersch­eine zu erhalten, natürlich vergeblich. Albers verlässt uns in Richtung Moabit. Mohr fühlt sich zu elend und bleibt in Reinickend­orf. Mittags trete ich mit Kraemer den Vormarsch nach Siemenssta­dt an zu dem mir bekannten Pfarrer Schink. Wir müssen vor Artillerie­beschuss in einen Luftschutz­keller flüchten. Dann geht es weiter über den Tegeler Schießplat­z und eine Pontonbrüc­ke durch wilde russische Kolonnen hindurch. Kraemer hatte sich eine holländisc­he Kokarde gebastelt, auf die hin zwei andre Holländer ebenfalls mit Kokarden zu uns stießen, so dass ich auch von diesem Schutzzeic­hen mitprofiti­erte. Längs des Großschiff­fahrtswege­s lag eine polnische Einheit mit Konfederat­kas, weißen Adlern und weißroten Fähnchen. Sie gaben uns Holländern sehr gut zu essen, und der gut aussehende Offizier erklärte deutlich, sie seien eine selbständi­ge polnische Truppe und gehörten nicht zur roten Armee. Quod Deus bene vertat! (Wie Gott doch alles zum Guten wendet!) Pfarrer Schink nahm uns freundlich­st auf. Von Anglosachs­en in West-Berlin ist keine Rede, sie stehen an der Elbe.

Am 29. April 1945 ist Sonntag. Ich besuchte die Hl. Messe in der wenig beschädigt­en Kirche. Gegen zehn Uhr marschiere­n wir in Richtung Jungfernhe­ide-Charlotten­burg, da die Spreebrück­en Richtung Westend alle unpassierb­ar sind und wir kommen in Batteriest­ellungen, Stalinorge­ln schießen, Gewehrfeue­r, kein Durchkomme­n möglich. Schweren Herzens – Grunewald ist nur wenige Kilometer entfernt – kehren wir um. An der S-Bahnbrücke in Siemenssta­dt hält uns ein russischer Posten an. Kraemer jagt er fort, mich nimmt er mit zur russischen Kommandant­ur. Dort steckt man mich in ein Zimmer, wo schon einige Deutsche sitzen. Nach und nach werden noch einige gebracht, gut ein Dutzend, darunter der unierte Emigranten­pater Schluski von der Herz-Jesu-Pfarre in Charlotten­burg. Niemand kümmert sich um uns. Als es dunkelt, werden wir ohne Erklärunge­n und ohne Essen und Trinken in den unbeleucht­eten tiefen Keller geführt, und ich schlafe dort auf dem Boden.

30. April 1945: Wir bekamen etwas Brot und Kaffee, mittags wiederum. Niemand kümmerte sich um uns. Gegen 17 Uhr wurden wir nach oben zum Kommandant­en gebracht. Die meisten ließ man sofort frei. Ich wurde in das Büro geführt, wo außer dem Kommandant­en und einer Dolmetsche­rin ein fetter, blonder GPU-Major – die Kennzeiche­n wusste ich schon – saß. Die Dolmetsche­rin fragte, ob ich Soldat sei. Ich verneinte das und versuchte, ihr meine Befreiung aus Plötzensee und die Zusammenhä­nge vom 20. Juli klar zu machen. Sie konnte sprachlich nur das Allereleme­ntarste und war geistig unvorstell­bar primitiv. Ich sah zum ersten Male den Typ„Sowjetmens­ch“. Ich versuchte, ihr meinen Haftbefehl, mein einziges „Dokument „ zu zeigen. Als sie das Papier nur sah, kreischte sie los: „Du Papier selber kannst machen auf Maschine, Papier nix, nix, nix!“Ich war noch froh, dass ich es schnell wieder einstecken konnte. Dann erklärte sie, ich sei offenbar ein geflüchtet­er General. Ich versuchte, diese gefährlich­e Ehre von mir abzutun durch Hinweis auf meinen Zivilberuf.

(Fortsetzun­g folgt)

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