Über Jahrzehnte haben sich manche Leiden sogar in Lehrbüchern gehalten. Dabei gab es sie gar nicht. Ein neues Buch begibt sich auf die Reise zu lauter medizinischen Märchen.
BERLIN (dpa) Cellospieler leben gefährlich. Professionelle Musiker, die dieses Instrument regelmäßig spielen, riskieren mit der Zeit einen sogenannten Cello-Hoden. Die Hauterkrankung wird ausgelöst von der ständigen Reizung durch das Instrument. Das jedenfalls schrieb ein gewisser John M. Murphy im Jahr 1974 in einem britischen Medizinjournal. Von da an geisterte diese bizarre Erkrankung immer wieder einmal durch die Gazetten. Bis der Autor des Artikels über 30 Jahre später zugab, dass er die Krankheit erfunden hatte. Er selbst zeigte sich am meisten verwundert darüber, dass sein Scherz für bare Münze gehalten wurde.
Aber eigentlich ging er auf das Konto seiner Gattin, einer namhaften britischen Ärztin: Elaine Murphy hatte im Mai 1974 zusammen mit ihrem damaligen Ehemann John einen Brief an das „British Medical Journal“(„BMJ“) geschrieben. Darin beschrieb er, dass Cellospielen im Hodenbereich Schmerzen verursacht. Zu ihrer eigenen Überraschung sei der Brief seinerzeit veröffentlicht worden, erklärten beide später.
Auf den Jux habe sie der Beitrag eines Arztes gebracht, der von den „guitar nipples“dreier Patienten berichtet hatte – junge Gitarrenspieler, deren Brustwarzen sich angeblich durch den Druck des Instrumentes entzündet hatten. „Wer jemals einem Cellospieler zugesehen hat, dem muss klar sein, dass unsere Behauptung physisch gar nicht möglich ist“, erklärte Baronin Murphy, die dem britischen Oberhaus angehört. Ihr Mann und sie hätten den Bericht über die „Gitarrenbrustwarze“für einen Jux gehalten und mit einem weiteren medizinischen Phänomen überbieten wollen. Den Brief an die„BMJ“unterschrieb seinerzeit ihr Mann, der kein Arzt ist und deshalb keinen beruflichen Ärger bekommen konnte.
Aber selbst nach Murphys Geständnis war der „Cello-Hoden“einfach nicht mehr tot zu kriegen, sondern irrlichterte als Musikerkrankheit weiter durch die Welt. Der „Cello-Hoden“als Fake News ist sicherlich eine Kuriosität der Medizingeschichte. Auch die „Guitarrenbrustwarzen“tauchen in der seriösen musikermedizinischen Ambulanz nie auf. Cellisten leiden allerdings relativ häufig an einer anderen Krankheit: der Rhizarthrose, der Arthrose der Daumensattelgelenks. Sie wird unter anderem dadurch ausgelöst, dass der Musiker mit dem Daumen hinter das Griffbrett greift und es gegen den Druck der anderen vier Finger auf die Saiten abstützt.
Es gibt jedoch viele andere Krankheiten, die einst tatsächlich Angst und Schrecken verbreiteten und die uns heute gar nichts mehr sagen. Was verbirgt sich etwa hinter Frieselfieber, dem Englischen Schweiß oder der Chlorose? Was war der Alpenstich, die Haffkrankheit oder die Skrofulose?
Die Kinderärztin Sophie Seemann erzählt in ihrem populärwissenschaftlichen Buch von verschwundenen Krankheiten und das ist bisweilen so spannend wie ein Krimi. Denn manche dieser Krankheiten geben immer noch Rätsel auf. Medizinhistoriker stochern im Nebel, da die historischen Beschreibungen oft ungenau und widersprüchlich, nach heutigen Kriterien unwissenschaftlich sind. Die meisten Krankheiten traten zeitlich begrenzt, manche nur regional auf. Einige wie die Phosphornekrose hatten ihre Ursachen in krankmachenden Umweltoder Arbeitsbedingungen, die es so heute nicht mehr gibt. Bisweilen scheint es sich auch eher um Modediagnosen gehandelt zu haben.
Eines der größten Rätsel der Medizingeschichte ist eine Epidemie, die im 16. Jahrhundert zunächst in England und dann auch auf dem Kontinent grassierte und die Tausende Opfer forderte. Der „englische Schweiß“äußerte sich in hohem Fieber, übel riechenden Schweißausbrüchen und brennendem Durst. Die Erkrankten starben meist innerhalb von Stunden. Das Merkwürdige: Nach fünf Epidemie-Wellen verschwand die Seuche so schnell, wie sie gekommen war, und bis heute wird wild spekuliert. Waren es Hantaviren? Wurden diese von Mäusen übertragen? Genaueres weiß man nicht:„Der Englische Schweiß bleibt geheimnisvoll.“
Das lässt sich ebenfalls vom Frieselfieber sagen, einer Krankheit, die im 17. Jahrhundert auftauchte und an der angeblich auch Mozart starb. Die Kranken litten an einem bläschenartigen Hautausschlag, Fieber, manchmal auch an Atemnot und Herzrasen. Doch offensichtlich, so konstatiert Seemann, war das massenhaft diagnostizierte Frieselfieber ein„chimäres Konstrukt“, unter dem damalige Ärzte verschiedene Infektionskrankheiten zusammenfassten. Mit der modernen Medizin verschwand auch das Frieselfieber.
Mittlerweile gibt es im Fall Mozart auch – neben mehreren anderen Verdachtsdiagnosen – eine als wahrscheinlich geltende Vermutung: dass Mozart an einer sehr schweren, bakteriell bedingten Rachenentzündung gelitten hat, die auf die Tonsillen (Mandeln) übergegriffen hat und zu einer Sepsis geführt hat. Solche Fälle gab es damals in Wien sehr häufig. Alle Symptome treffen auf Mozarts Fall zu.
Im 19. Jahrhundert tauchten dann vermehrt sogenannte chlorotische Mädchen in den Arztpraxen auf. Diese bleichsüchtigen jungen Frauen waren schlapp und antriebslos, ekelten sich vor Essen oder hatten merkwürdige Gelüste. Manche besorgten Ärzte verschrieben als Therapie schnelle Verheiratung. Tatsächlich scheint es sich um eine psychosomatische Krankheit gehandelt zu haben oder auch um eine Essstörung. Die Chlorose passte allerdings damals gut zum Ideal der empfindsamen, zartbesaiteten Frau. Und als dieses nach dem ErstenWeltkrieg aus der Mode kam, war es auch um die Chlorose geschehen.
Manchmal schrecken Ärzte auch nicht vor Manipulationen und plumpen Erfindungen zurück, um ihren eigenen Ruhm zu mehren. So tauchte Mitte des 19. Jahrhunderts plötzlich das Krankheitsbild„Alpenstich“auf. Die schauerliche Infektionskrankheit galt als „hinterhältiger, geheimnisvoller Killer“, der vor allem Schweizer Bergbauern heimsuchte. Doch heute weiß man, dass der Schweizer Arzt Johann Jakob Guggenbühl den Alpenstich aus Geltungssucht erfunden hatte: Er wollte sich gegenüber seinen deutschen Kollegen mit einer schweizerischen Krankheit profilieren. In Wirklichkeit handelte es sich wohl um eine Brustfellentzündung.